Was bist du? Was bin ich?
Was bist du? Was bin ich? Einander überschneidende Kreisläufe von Wasser, Erde, Luft und Feuer, das bin ich, das bist du.
Wasser
Blut, Lymphe, Schleim, Schweiß, Tränen, innere Meere, die der Mond bewegt, Gezeiten innen und Gezeiten außen. Strömende Flüssigkeiten, in denen unsere Zellen schwimmen, Ströme, die durch endlose Flussbetten und Eingeweiden, Adern und Kapillaren rauschen und uns nähren. Flüssigkeit, die in dich und mich hineinfließt, durch dich und mich hindurch und aus mit heraus, in dem gewaltigen Gesang vom Kreislauf des Wassers. Das bist du. Das bin ich.
Erde
Materie aus Stein und Humus. Auch sie wird vom Mond angezogen, während glutflüssige Masse sich durch das Herz des Planeten wälzt und Wurzeln Moleküle in der Pflanzenwelt ziehen. Erde wandert durch uns hindurch, erneuert alle sieben Jahre jede Zelle in unserem Körper. Asche zu Asche, Staub zu Staub. Wir führen uns Erde zu, nehmen sie auf und scheiden sie wieder aus. Wir sind aus Erde gemacht. Das bin ich. Das bist du.
Luft
Die Welt der Gase, die Atmosphäre, die Schutzhülle des Planeten. Einatmen und Ausatmen. Kohlendioxid in die Bäume ausatmen und die von ihnen gereinigte frische Luft einatmen. Sauerstoff, der jede Zelle wachküsst, Atome, die im harmonischen Reigen des Stoffwechsels tanzen, ineinander dringen. Dieser Tanz im Kreislauf des luftigen Elements, dieses Ein- und Ausatmen des Universums, das bin ich, das bist du.
Feuer
Feuer von unserer Sonne, die allem Leben Energie gibt, Pflanzen emporzieht, die Wasser als Dampf zum Himmel erhebt, damit es im Fallen wieder nährt. Das innere Wärmekraftwerk deines Stoffwechsels brennt mit dem Feuer des Urknalls, der zuerst Materie und Energie durch Raum und Zeit geschleudert hat. Dasselbe Feuer wie der Blitz, der in die Ursuppe eingeschlagen und die Geburt organischen Lebens entfacht hat.
Du warst dabei, ich war dabei, denn jede Zelle unseres Körpers stammt in ungebrochener Linie von diesem Geschehen ab. Das Atom hat den Wunsch, ein Molekül zu werden, das Molekül in einer Zelle, die Zelle in einem Organismus. In dieser Gestaltung von Formen wurde der Tod geboren und mit ihm die Geschlechtlichkeit, bevor wir uns vom Pflanzenreich trennten. So können wir in unserer Sexualität uralte Regungen spüren, die uns sowohl mit Pflanzen wie auch mit tierischem Leben verbinden. Wir stammen in ungebrochener Linie von ihnen ab – über Fische, die gelernt haben, auf dem Land zu laufen, die gespürt haben, wie ihre Schuppen zu Flügel wurden, und über die Wanderungen den Eiszeiten hinweg.
Auf unserer langen planetarischen Reise haben wir das Kleid viel älterer Formen getragen als das, in dem wir jetzt antreten. An einige dieser Formen erinnern wir uns dunkel im Mutterleib, wo unsere Formbildung noch Schwanz und Kiemen ahnen lässt, unsere Hände der Form von Flossen entwachsen.
Auf dieser Reise sind wir unzählige Male alten Formen entstorben, haben alte Bahnen verlassen und neue gefunden. Aber nichts geht verloren. Obwohl Formen vergehen, kehrt alles zurück. Jede verbrauchte Zelle wird verzehrt, wiederverwertet … durch Moos, Blutegel, Beutevögel …
Denke an deinen nächsten Tod. Schicke dein Fleisch und deine Knochen zurück in den Kreislauf vom Werden und Vergehen. Gib dich anheim. Liebe die fetten Würmer, zu denen du werden wirst. Wasche dein müdes Sein in der Quelle des Lebens.
Wenn ich dich sehe, sehe ich auch all die verschiedenen Geschöpfe, aus denen di gestaltet bist – die Mitochondrien, Energieumwandler der Zellen, die Bakterien in den Eingeweiden, Das Leben, das auf der Oberfläche der Haut brodelt. Die große Symbiose, die du bist. Das unglaubliche Miteinander und Zusammenwirken von zahllosen Wesen. Auch das bist du, so wie dein Körper Teil einer sehr viel größeren Symbiose ist, in vielfältig vernetzten Wechselbeziehungen lebt. Sei dir dieses Gebens und Nehmens bewusst, wenn du dich unter den Bäumen bewegst. Atme einem Blatt dein reines Kohlendioxid entgegen und spüre, wie es dir frischen Sauerstoff zurückatmet.
Erinnere dich wieder und wieder an die alten Kreisläufe der Partnerschaft. Finde deine Kraft in ihnen in dieser Zeit der Not. Dein wirkliches Wesen und die Reise, die du hinter dir hast, gibt dir ein tiefes Wissen um Zugehörigkeit. Schöpfe daraus Kraft in dieser Zeit der Angst. Du trägst in dir die erdengeborene Weisheit von deinem Seinzusammenhang mit allem, was ist. Schöpfe jetzt daraus Mut und Kraft, damit wir einander helfen können, in dieser Zeit der Gefahr zu erwachen.
Aus: John Seed, Joanna Macy, Pat Fleming, Arne Naess: Denken wie ein Berg: Die Konferenz des Lebens.