Inhalt
Willkommen beim Integralen Ansatz
Es gibt sogar Platz für viele Körper
Zustandsidentitäten und Umschlagpunkte
Integrale Spiritualität – Ein Vortrag von Wulf Mirko Weinreich
Spiritualität
»Ein neuer Tag ist angebrochen, ein neuer Morgen dämmert, ein neuer Mann, eine neue Frau zeigen sich am Horizont. Der neue Mensch ist integral, und das gilt auch für seine Spiritualität.«
Ken Wilber
Spiritualität ist die Suche, die Hinwendung, die unmittelbare Anschauung oder das subjektive Erleben einer sinnlich nicht fassbaren und rational nicht erklärbaren transzendenten Wirklichkeit, die der materiellen Welt zugrunde liegt.
Es geht dabei nicht um gedankliche Einsichten, Logik oder die Kommunikation darüber, sondern es handelt sich in jedem Fall um intensive psychische, höchstpersönliche Zustände und Erfahrungen. [Wikipedia]
Was wäre wenn …?
Was, wenn wir alles, was die verschiedenen Kulturen uns über das menschliche Potenzial zu sagen haben – über spirituelles Wachstum, psychologisches Wachstum, soziales Wachstum —, ganz konkret auf einen Tisch packen würden? Wenn wir versuchen würden, die wesentlichen und entscheidenden Schlüssel zum menschlichen Wachstum zu finden, die auf der Gesamtsumme menschlichen Wissens beruhen, zu dem wir heute Zugang haben? Was, wenn wir versuchten, auf der Basis gründlicher, kulturübergreifender Studien mit Hilfe sämtlicher großen Welttraditionen eine umfassende, komplexe, alles umschließende oder integrale Landkarte zu erstellen, welche die besten Elemente dieser Traditionen mit einbezieht?
Klingt kompliziert, komplex, erschreckend? In gewisser Weise ist es das auch. Aber in anderer Hinsicht, so stellen wir fest, kommt dabei etwas erstaunlich Simples und Elegantes heraus. Im Laufe der letzten Jahrzehnte sind tatsächlich gründliche Forschungen zur Entdeckung einer umfassenden Landkarte menschlicher Potenziale durchgeführt worden. Diese Landkarte nutzt sämtliche bekannten Systeme und Modelle menschlichen Wachsens – von denen der Schamanen und Weisen alter Zeiten bis hin zu den heutigen Durchbrüchen der kognitiven Wissenschaften – und destilliert ihre Hauptkomponenten zu fünf simplen Faktoren – Faktoren, welche die wesentlichen Elemente oder Schlüssel zur Erschließung und Förderung der menschlichen Evolution darstellen. Willkommen beim Integralen Ansatz!
Willkommen beim Integralen Ansatz
Ob Sie nun in der Wirtschaft, Medizin, Psychotherapie, Justiz oder Ökologie arbeiten oder es einfach um Ihr tägliches Leben und Lernen geht, der Integrale Ansatz stellt sicher, dass Sie, wie beim Baseball, »alle Stützpunkte erreichen«.
Kurz gesagt, der Integrale Ansatz unterstützt Sie darin, sich und die Welt, die Sie umgibt, umfassender und effizienter zu sehen. Wichtig ist, dabei von Anfang an Folgendes zu begreifen: Die Integrale Landkarte ist nur eine Karte. Sie ist nicht das Gelände selbst. Wir wollen ganz bestimmt nicht die Karte mit dem Gelände verwechseln – aber wir wollen auch nicht mit einer fehlerhaften oder falschen Karte reisen. Möchten Sie die Alpen mit einer schlechten Landkarte überfliegen? Die Integrale Landkarte ist nur eine Karte, aber sie ist die vollständigste und genaueste Karte, die wir zurzeit haben.
Was ist ein IBS?
IBS bedeutet einfach Integrales Betriebssystem. In einem Informationsnetzwerk ist ein Betriebssystem die Infrastruktur, welche die Anwendung zahlreicher verschiedener Softwareprogramme ermöglicht. Wir benutzen Integrales Betriebssystem oder IBS einfach als weiteren Begriff für die Integrale Landkarte. Der Punkt ist, dass Sie, wenn Sie in Ihrem Leben eine beliebige Software anwenden – sei es in Ihrem Unternehmen, bei der Arbeit, im Spiel oder in Beziehungen -‚ das beste Betriebssystem wollen, das Sie finden können, und das IBS erfüllt diese Anforderungen. Da es alle »Stützpunkte abdeckt«, können Sie damit die effektivsten Programme anwenden. Das ist einfach eine andere Art, über die umfassende, einschließliche Beschaffenheit des Integralen Modells zu sprechen.
Durch Anwendung des Integralen Ansatzes – einer Integralen Landkarte oder eines Integralen Betriebssystems – können wir interdisziplinäre und transdisziplinäre Erkenntnisse fördern und dramatisch beschleunigen und auf diese Weise die erste wirkliche Lerngemeinschaft der Welt gründen.
Bewusstseinszustände
Jeder kennt grundlegende Bewusstseinszustände wie Wachen, Träumen und Tiefschlaf. Im Augenblick befindet sich Ihr Bewusstsein im Wachzustand (oder, wenn Sie müde sind, vielleicht im Zustand des Tagträumens). Es gibt alle möglichen verschiedenen Bewusstseinszustände, unter anderem meditative Zustände (ausgelöst durch Yoga, kontemplatives Gebet, Meditation usw.), veränderte Zustände (z.B. bewirkt durch Drogen) und zahlreiche verschiedene Gipfelerfahrungen, die beispielsweise durch intensive Erlebnisse wie das Liebesspiel, Wanderungen in der Natur oder schöne Musik ausgelöst werden können.
Die großen Weisheitstraditionen (wie die christliche Mystik, der Vedanta Hinduismus, der Vajrayana Buddhismus und die jüdische Kabbala) behaupten, dass die drei natürlichen Bewusstseinszustände – Wachen, Träumen und formloser Tiefschlaf— tatsächlich einen ganzen Schatz an spiritueller Weisheit und spirituellem Erwachen bergen wenn wir wissen, wie wir sie richtig nutzen können. Meistens gehen wir davon aus, dass der Traumzustand nicht real ist, aber was, wenn Sie ihn wach betreten könnten? Und ebenso den Tiefschlaf?
Spirituelle Erleuchtung
Könnten Sie in diesen erwachten Zuständen etwas Außergewöhnliches lernen? Wie können Sie das wissen, wenn Sie es nicht ausprobieren? Es könnte sein, dass die drei großen natürlichen Zustände Wachen, Träumen und Tiefschlaf in einem ganz speziellen Sinne, den wir im Folgenden erforschen werden, ein vollständiges Spektrum von spiritueller Erleuchtung enthalten.
Doch auf einer viel simpleren, weltlicheren Ebene erlebt jede und jeder von uns zahlreiche verschiedene Bewusstseinszustände, und dieser Zustände vermitteln sowohl Ihnen als auch anderen Menschen oft tiefe innere Motivation, Sinn und Antrieb. Bewusstseinszustände mögen in bestimmten Situationen kein besonders wichtiger Faktor sein oder sie sind der entscheidende Faktor, doch kein integraler Ansatz kann es sich leisten, sie zu ignorieren.
Immer wenn Sie das IBS anwenden, veranlasst Sie das automatisch zu überprüfen, ob Sie in Berührung mit den »Stützpunkten« dieser wichtigen subjektiven Realitäten sind. Das ist ein Beispiel dafür, wie eine Landkarte – in diesem Fall das IBS oder die Integrale Karte – Ihnen helfen kann, Ausschau zu halten nach einem Gelände, von dem Sie bislang vielleicht noch nicht einmal vermutet haben, dass es existiert.
Es gibt sogar Platz für viele Körper
Bewusstseinszustände schweben nicht körperlos in der Luft umher. Im Gegenteil, jeder Geist hat seinen Körper. Jeder Bewusstseinszustand hat eine gefühlte energetische Komponente, ein verkörpertes Gefühl, ein konkretes Medium, das den jeweiligen Bewusstseinszustand ganz real unterstützt.
Nehmen wir ein simples Beispiel aus den Weisheitstraditionen. Weil jeder von uns Zugang zu den drei großen Bewusstseinszuständen hat – Wachzustand, Traum und formloser Tiefschlaf—, behaupten die Weisheitstraditionen, dass auch jeder von uns drei Körper hat, die oft als grobstofflicher Körper, subtiler Körper und kausaler Körper bezeichnet werden.
Ich habe drei Körper? Wollen Sie mich auf den Arm nehmen? Reicht ein Körper nicht? Aber bedenken Sie folgendes: Für die Weisheitstraditionen ist »Körper« lediglich ein Modus der Erfahrung oder ein energetisches Gefühl. Es gibt also »rohe« oder grobstoffliche Erfahrung, subtile oder feinstoffliche Erfahrung und sehr subtile oder kausale Erfahrung. Die Philosophen würden in diesem Zusammenhang von »phänomenologischen Realitäten« oder einfach von Realitäten sprechen, da diese sich in unserem unmittelbaren Wahrnehmungsfeld zeigen. Im Augenblick haben Sie Zugang zu einem grobstofflichen Körper und seiner grobstofflichen Energie, einem subtilen Körper und seiner subtilen Energie und einem kausalen Körper und seiner kausalen Energie.
Bewusstsein und Komplexität
Drei Körper – ist das vielleicht zu »weit hergeholt«? Nun, denken Sie daran, es geht hier um phänomenologische oder auf Erfahrung beruhende Realitäten. Doch es gibt noch eine simplere, weniger »weit hergeholte« Möglichkeit, sich diese Realitäten anzuschauen – dieses Mal auf der Grundlage nüchterner Wissenschaft. Das sieht so aus: Jede Ebene von innerlichem Bewusstsein geht einher mit einer Ebene von äußerer physischer Komplexität.
Je größer das Bewusstsein, desto komplexer das System, in dem es angesiedelt ist. Mit dem Reptilien-Gehirnstamm bei lebenden Organismen zum Beispiel gehen ein rudimentäres innerliches Bewusstsein von grundlegenden Trieben wie Hunger und Durst, sowie physiologische Empfindungen und sensomotorische Aktivitäten einher (alles, wovon es weiter vorn hieß, es sei »grobstofflich«). Beim komplexeren Säugetiergehirn oder limbischen System haben sich diese grundlegenden Empfindungen erweitert und dahingehend entfaltet, dass sie jetzt ziemlich differenzierte Gefühle, Wünsche, emotional-sexuelle Impulse und Bedürfnisse mit einschließen und damit den Beginn dessen darstellen, was wir als subtile Erfahrung oder subtilen Körper bezeichnet haben.
Während die Evolution fortschreitet zu noch komplexeren physischen Strukturen, wie dem dreieinigen Gehirn mit seinem Neokortex, erweitert sich auch das Bewusstsein zur weltzentrischen Sicht von »Wir alle«. Es beginnt sich auf diesem Weg sogar an das anzuschließen, was wir als kausalen Körper bezeichnet haben.
Wie passt das alles zusammen?
AQAL ist die Abkürzung für »alle Quadranten, alle Ebenen«, was wiederum die Abkürzung ist für »alle Quadranten, alle Ebenen, alle Linien, alle Zustände, alle Typen«. Das sind fünf der grundlegendsten Elemente, die wir in einen wirklich integralen oder umfassenden Ansatz mit einbeziehen müssen. Wenn wir AQAL als wegweisenden Bezugsrahmen für das systematische Erfassen oder Verständnis einer Aktivität benutzen, bezeichnen wir dieses Modell auch als Integrales Betriebssystem oder IBS.
Es gibt noch fortgeschrittenere Modelle des IBS, aber unser Grundlagenmodell hat bereits alle wesentlichen Elemente (Quadranten, Ebenen, Linien, Zustände, Typen), sodass mit seiner Hilfe jede und jeder anfangen kann, sich mit einem umfassenderen, einschließlicheren und effektiveren Ansatz vertraut zu machen. Natürlich sind AQAL und das IBS als solche nur Landkarten, nicht mehr. Sie sind nicht das eigentliche Gelände. Aber soweit wir wissen, ist dies die umfassendste Landkarte, die wir zurzeit besitzen. Außerdem – und das ist wichtig – besteht die Integrale Landkarte darauf, dass wir das reale Gelände aufsuchen und nicht bei bloßen Worten, Ideen oder Konzepten stehen bleiben.
Integrale Spiritualität
Lassen Sie mich kurz erläutern, warum das alles für die heutige Spiritualität von entscheidender Wichtigkeit ist. Viele von Ihnen kennen vielleicht Spiral Dynamics, ein System der psychosozialen Entwicklung, das auf Clare Graves‘ bahnbrechenden Untersuchungen über Stufen von Wertesystemen beruht. Spiral Dynamics ist repräsentativ für den Typ Forschung, der so wertvoll für das Verständnis der Weltsichten, Werte und Stufen von Sinnfindung ist, die menschliche Wesen durchlaufen. Und viele von Ihnen wissen um die tiefen meditativen Zustände, die allgemein als Unio mystica, Sahaj oder Satori (oder Erleuchtung und Erwachen) bezeichnet werden. Diese Stufen, so heißt es in den großen Traditionen, vermitteln uns ein Wissen oder Bewusstsein von einer höchsten Realität.
Hier der entscheidende Punkt: Sie können jahrzehntelang auf Ihrem Meditationskissen sitzen, OHNE JEMALS irgendetwas zu sehen, was den Stufen von Spiral Dynamics auch nur im Entferntesten ähnelt. Und Sie können bis in alle Ewigkeit Spiral Dynamics studieren, OHNE JEMALS ein Satori zu haben. Und der integrale Punkt ist: Wenn Sie nicht beides mit einbeziehen, werden Sie menschliche Wesen und ihr Verhältnis zur höchsten Wirklichkeit, zum Göttlichen usw. wahrscheinlich nie verstehen.
Meditatives Verständnis beruht vor allem auf einer Methode, mit deren Hilfe das »Ich« von innen betrachtet wird (Phänomenologie). Spiral Dynamics untersucht dieses Ich von außen (mit Hilfe des Strukturalismus). Beide untersuchen das Bewusstsein einer Person, sehen aber völlig unterschiedliche Dinge, weil sie unterschiedliche Standpunkte oder Perspektiven einnehmen und unterschiedliche Methoden anwenden. Darüber hinaus kann eine Person in einem Bereich weit fortgeschritten sein, im anderen aber nicht, oder umgekehrt, ohne dass diese beiden Methoden dies mit Hilfe ihrer jeweiligen Maßstäbe überhaupt feststellen können; beide können sich noch nicht einmal gegenseitig sehen!
Phänomenologie
Für diejenigen von Ihnen, die irgendwo mittendrin den Versuch aufgegeben haben zu verstehen, was ich hier sage – das simple Fazit von alledem ist: Die großen Weisheitstraditionen gehen davon aus, dass alle Männer und Frauen Zugang zu mindestens fünf großen, natürlichen Bewusstseinszuständen haben, die alle direkt erfahrbar sind:
1. Grobstoffliche Wachzustände, zum Beispiel das, was ich erlebe, wenn ich Fahrrad fahre, diese Zeilen lese oder Körperarbeit mache;
2. subtile Traumzustände, wie ich sie in einem lebhaften Traum, einem lebhaften Tagtraum oder einer Visualisierungsübung sowie auch in einigen Meditationen erleben kann, die auf eine Form ausgerichtet sind;
3. kausal-formlose Zustände, wie im tiefen traumlosen Schlaf, Typen von formloser Meditation und Erfahrungen von weiter Offenheit oder Leerheit;
4. Zustände, in denen wir Zeuge sind – oder einfach »der Zeuge« -; damit ist die Fähigkeit gemeint, sämtliche anderen Zustände als Zeuge wahrzunehmen; zum Beispiel die Fähigkeit zum ununterbrochenen Gewahrsein im Wachzustand und zu luziden Träumen;
5. immer präsentes, nichtduales Gewahrsein, das ist weniger ein Zustand als der immer gegenwärtige Urgrund aller Zustände (und kann als solcher »erfahren« werden).
Zustandsidentitäten und Umschlagpunkte
Obwohl Zustände kommen und gehen, kann man auf dem meditativen Übungsweg gewisse Zustandsstufen erreichen und stabilisieren. Eine Zustandsstufe bezeichnet die Fähigkeit, willentlich Zugang zu einem bestimmten Zustand – zum Beispiel der kausalen, formlosen Versunkenheit – herzustellen.
Zustandstraining zielt darauf ab, die ausschließliche Identifikation mit dem Wachzustand zu durchbrechen, indem man die Wachheit durch alle Zustände ausdehnt, um dasjenige zu finden, was jenseits aller Zustandsveränderungen liegt, der Zeuge, bzw. das Selbst. Von dort aus gilt es, sich schließlich wieder mit der gesamten Schöpfung in einer nondualen Vereinigung eins zu wissen.
Die Integrale Spiritualität kennt vier Identitäten, die sich an den verschiedenen Zuständen ausrichten: Ego bzw. ICH, Seele, Selbst und Soheit. Zwischen diesen Identitäten liegen die horizontalen Umschlagpunkte, die den Schwerpunkt der Zustandsidentifikation definieren. Die Umschlagpunkte sind analog zu den Drehpunkten der vertikalen Strukturentwicklung zu verstehen, die den Bewusstseinsschwerpunkt des Individuums definieren.
Während dieser Übergänge muss das Individuum sowohl die Elemente der aktuellen Phase transzendieren (oder sich von ihnen abgrenzen) als auch diese Elemente in sein sich entwickelndes Selbst einbeziehen (oder integrieren). Dieser Prozess des „Transzendierens und Integrierens“ ist für eine gesunde Entwicklung notwendig. Er kann jedoch auch herausfordernd und komplex sein, und der Einzelne stößt oft auf Schwierigkeiten oder Funktionsstörungen.
Ebenfalls analog zu den Drehpunkten können an den Umschaltpunkten unterschiedliche Pathologien auftreten, wenn die Differenzierung von einem bestehenden Zustand so weit fortgeschritten ist, dass die Transzendierung auf den nächsten Zustand ansteht. Auch hier ist es möglich, durch mangelhafte Differenzierung vom vorherigen Zustand teilweise mit diesem identifiziert zu bleiben oder sich mit dem neuen Zustand derart zu überidentifizieren, dass der vorherige verdrängt, dissoziiert und infolgedessen vielleicht sogar auf andere Menschen projiziert wird.
Dunkle Nacht
»Dunkle Nacht« ist ein allgemeiner Begriff, der in den verschiedenen Traditionen vieles meint. Generell bezeichnet er eine Phase, in der jemand eine Anhaftung oder Sucht in einem bestimmten Bereich (grobstofflich, subtil, kausal) hinter sich lässt oder loslässt. Und manchmal ist damit auch der Schmerz gemeint, der sich einstellt, wenn jemand eine Gipfelerfahrung mit einem höheren Zustand macht, in dem er bereits frei ist von dieser speziellen Sucht, und dann zurückfällt auf die niedrigere Stufe, was ein tiefes Gefühl von Verlust und Leid auslöst. Diese dunklen Nächte treten meistens in den Übergangsphasen zwischen den Zuständen auf oder dem Übergang der Wachheit (und damit der Identität) vom grobstofflichen Körper zum subtil-seelischen Traum zum kausal-formlosen Selbst zum radikal Nichtdualen.
Das heißt, dunkle Nächte erleben Suchende meist an der Schwelle zwischen diesen allgemeinen Zuständen, wenn die Anhaftung an oder die Identifizierung mit diesen Zuständen losgelassen oder aufgegeben wird. Die Zustände selbst (und ihre generellen Bereiche des Seins und der Erkenntnis) bleiben erhalten und entstehen weiter. Aber die Identifizierung mit ihnen wird abgestreift, und dieses »Abstreifen« löst die entsprechenden dunklen Nächte der Sinne, der Seele und des Selbst aus. Es verursacht eine dunkle Nacht der Sinne, eine dunkle Nacht der Seele und eine dunkle Nacht des Selbst.
Dreifache dunkle Nacht
Man unterscheidet drei Dunkle Nächte, die man jeweils beim Wechsel in einen tieferen und deutlich erweiterten Bewusstseinszustand (oder Körper) durchlebt und durchleidet.
a) Dunkle Nacht der Sinne – von physisch zu subtil
b) Dunkle Nacht der Seele – von subtil zu kausal
c) Dunkle Nacht des Selbst – von kausal zu nondual.
Dunkle Nacht der Sinne
Die Dunkle Nacht der Sinne gehört zur Phase der Läuterung des Grobstofflichen, das von der Welt der Sinne besetzt ist. Hier geht es um das Transzendieren unserer Anhaftungen an Nahrung, Sex, Besitz, Rollenidentität und Macht. Da man noch sehr nahe am grobstofflichen Bereich ist, zeigen sich oft äußere Krisen, Krankheitssymptome, Beziehungskonflikte, Finanzprobleme, Machtmissbrauch und ungute sexuelle Anhaftungen. Oft wird der bisherige Lebensentwurf erschüttert. In dieser Zeit äußerer Destabilisierung fühlt sich das bisherige Leben schal und fade an. Die eigene Lustlosigkeit wird aber äußeren Faktoren angekreidet. Der laufende spirituelle Konflikt ist ein individuelles Wachstumsdrama, wird aber oft als Beziehungskonflikt ausagiert und missdeutet. Fremdgehen, Trennungen und Scheidungen aus egoistischen Motiven heraus häufen sich hier. Es wäre aber falsch, das Ego mit ungesunder Askese zu bekämpfen, es zu verteufeln und als sündig zu verdammen. Das ist das Gegenteil einer gesunden Transformation und Integration des Alltags-Ichs.
Dunkle Nacht der Seele
Die Dunkle Nacht der Seele, die Des-Identifikation vom Subtilen. Diese Sphäre ist ein besonders sensibler, verletzlicher Bereich. Der Schauplatz liegt jetzt ganz im eigenen Inneren, wo man mit sich selbst ringt. Die Seele wird als Drehpunkt zwischen dem Weltlichen und dem Göttlichen erkannt. Hier muss sich die Seele den inneren Bildern, Gedanken, inhaltlichen Konzepten, Gottesbildern, Wünschen und Projektionen (basierend auf Hass, Angst und Gier) stellen. Man hat das Gefühl sich selbst verloren zu haben. Manche sprechen von Ruhelosigkeit, Verlust der Willenskraft, innerer Zerrissenheit und dem Gefühl totaler Wertlosigkeit. Schwierig wird es, wenn man bereits einmal kurz »mit dem Fuß« im formlosen Bereich war und etwas vom nächsten »relativen Himmel« und seiner Freiheit erfassen konnte, aber wieder zurückgeworfen wurde in die »schmutzige, verwahrloste Behausung« seines bisherigen dumpfen Zustands, weil die Des-Identifikation nicht vollständig glückte. Das erzeugt neuen Schmerz, neue Zweifel und noch mehr Leiden am hartnäckigen Seelen-Ich.
Geduld ist notwendig und Vertrauen. Der schmerzhafte Tod des Seelen-Ichs wird nicht mehr bekämpft, sondern durch radikales loslassen unterstützt. Wenn schließlich der befreiende Absprung vom subtilen Feld in den kausalen Grund gelingt, transzendiert man das Ich ins Nicht-Ich. Und gelangt hinter die Welt aus Raum und Zeit ins Formlose. Man ist jetzt mit dem namenlosen Reinen Selbst identifiziert. Es tritt eine innere Stille und Frieden ein, weil dieses Ich von allen Gefühlen entbunden, von allen Objekten gelöst und von allen Identifikationen befreit ist.
Dunkle Nacht des Selbst
Die Dunkle Nacht des Selbst ist ein Zustand, indem es wieder um die drei Schritte Differenzierung, Ent-Identifizierung und völlige Neu-Identifizierung geht. Das kausale Selbst, das Zeugenbewusstsein, sieht noch immer »etwas« und kann sich deshalb nicht als das EINE erkennen. Das Selbst, welches hier stirbt, ein Selbst ohne jeglichen Inhalt. Ein Tod, welcher jegliche Identität im gesamten manifesten Bereich betrifft – mit allen dazugehörigen Wünschen, Bedürfnissen, Gewohnheiten, Leidenschaften und Charakteristiken.
Dies ist ein gewaltiger Tod, ein fürchterliches Abschiednehmen zu allen Dingen, die jemals wertgeschätzt wurden. Es wird nicht erkannt, dass der Tod des kausalen Selbst und der Sprung in die Leerheit ein Sprung zu noch größerer Freiheit und potentieller Fülle bedeutet. Das neue Leben zeigt sich im wahrhaftigsten und umfassendsten Bewusstseinszustand, den es »gibt«. Erst wenn das Zeugenbewusstsein dieses Festhalten am Zerteilen opfert, hört das Leiden auf. Der universelle GEIST, der sich im ganzen Kosmos verkörpert, erfüllt in seiner strahlenden Reinheit das ganze Bewusstsein.
Der Weg des Auswachens
Werde präsent, achtsam und lebendig mit dem stärksten verfügbaren Verständnis von spirituellem Wachstum.
Im Kontext der Integralen Theorie sprechen wir von »Aufwachen«, da es sich auf verschiedene Bewusstseinszustände bezieht. Wenn man erwacht, wird die ausschließliche Identifikation mit grobstofflichen, subtilen und kausalen Schichten der Realität abgebaut. Man bewegt sich über eine ausschließliche Identifikation mit Gedanken (grob), über eine ausschließliche Identifikation mit persönlicher Identität (subtil), über eine ausschließliche Identifikation mit dem Kommen und Gehen von Zeit und Raum (kausal) und sogar über eine ausschließliche Identifikation mit individuellem Bewusstsein hinaus (Zeuge). Wenn alle Schichten der Verdunkelung entfernt sind, kann man bejahen, was übrigbleibt – die nicht-duale Grundlage des Bewusstseins; ein Fundament, die sich natürlich und spontan als vollkommen relative Form manifestiert.
Der erste Schritt des Aufwachens
Der erste Schritt des Aufwachens ist die ICH-Transzendierung. Damit kann der Mensch seine Identifikation mit dem rationalen Verstand, der die Illusion des getrennten ICHs aufrechterhält, auflösen und gelangt in den größeren, transrationalen Bewusstseinsraum der Seele, in dem die manifesten und subtilen Phänomene erscheinen, einschließlich des ICHs.
Der zweite Schritt des Aufwachens
Der nachfolgende subtile Zustand ist durch schrittweise Ausdehnung des Seelenraumes und zunehmende Transparenz gekennzeichnet. Der Kosmos erscheint durchsichtiger, fließender und leuchtender und wird als »GEIST-in-der-Form« wahrgenommen. Es gibt einen erweiterten Zugang zu Bereichen des kollektiven Unbewussten.
Der dritte Schritt des Aufwachens
Dem folgenden kausalen Zustand ist wohl das Wort »Erleuchtung« zu verdanken, da der Eintritt oft mit spektakulären Licht-. Klang und anderen Schwingungsphänomenen (Illuminationen) verbunden ist, auch mit Erfahrungen von Glückseligkeit, Kreativität und Mitgefühl. Hinzu kommt das Verschmelzen mit oft als Trinitäten erlebten göttlichen Schöpfungsaspekten.
Der vierte Schritt des Aufwachens
Doch wird GEIST hier noch als »dahinter« wahrgenommen, als »Gewahrsein des Gewahrseins«. Im anschließenden Turiya-Zustand wird diese letzte Grenze transzendiert, hinein in den völlig unpersönlichen, bezeugenden GEIST, wie es bspw. bei Nahtoderlebnissen oder Meditationsmarathons erlebt werden kann.
Dieser Zustand wir auch Spiegel-Geist genannt, weil er den Kosmos einfach spiegelt. Er ist form-, farb- und zeitlos, reine Tiefe ohne jeden eigenen Inhalt – und damit nicht so spektakulär wie das Kausale. Während der Zeuge bislang nur im Hintergrund anwesend und aktiv war, tritt er jetzt hervor. GEIST nimmt sich durch uns bewusst wahr!
Der fünfte Schritt des Aufwachens
Als letzter Schritt bleibt das Erwachen in die nonduale Soheit (Turiyatita): Aus GEIST wird *GEIST*. Nichts beschreibt diese Erkenntnis besser als die buddhistische Einsicht: »Form ist (nicht verschieden von) Leere, Leere ist (nicht verschieden von) Form – beide waren nie getrennt.«
Vereinigung zum All-Ein-Sein
Die tägliche Welt erscheint permanent in der Leerheit des GEISTes und ist GEIST. Während dieser Entwicklung zu immer mehr Wachheit verschiebt sich das aktuelle Selbst vom ICH über die Seele, SELBST und Zeuge immer weiter in Richtung Soheit / *GEIST*. Der zunächst persönliche Bewusstseinsraum erweitert sich, bis er irgendwann den ganzen Kosmos enthält und sich gleichzeitig damit identifiziert.
Der Kreis hat sich geschlossen.