Integrales Bewusstsein – Ganzheitliches Denken

Ganzheitliches Denken

Unsere heutige Denkweise basiert immer noch auf der statischen, inzwischen überholten Wahrnehmung der klassischen Physik. Die Physiker des 20. Jahrhunderts haben diese Denkweise längst überwunden, dies nachzuvollziehen ist jetzt jeder einzelne wie auch die gesamte Gesellschaft aufgerufen. Weiterleben kann die Menschheit nur, wenn sie lernt, von Grund auf anders zu denken und zu leben – nicht mehr quantitativ, linear auf eindimensionaler Logik aufbaut, sondern qualitativ, komplex, in vernetzten Systemen.

Krise und Wandlung

Die neuen Vorstellungen der Physik haben unser Weltbild tiefgreifend verändert – von der mechanistischen Vorstellungswelt eines Descartes („Ich denke, also bin ich“) und Newton („Kräfte wirken immer wechselseitig“) zu einer ganzheitlichen Sicht. Die Erforschung der atomaren und subatomaren Welt brachte sie in Kontakt mit einer seltsamen und unerwarteten Wirklichkeit. In ihrem Ringen darum, diese neue Wirklichkeit zu erfassen, wurden sich die Naturwissenschaftler schmerzlich bewusst, dass ihre Grundbegriffe, ihre Sprache, ja sogar ihre gesamte Denkweise für die Beschreibung der atomaren Phänomene ungeeignet waren. Diese Probleme waren nicht nur intellektueller Art, sondern erwiesen sich als eine tiefe emotionale und, man könnte fast sagen, existentielle Krise. Sie brauchten lange um diese Krise zu überwinden, wurden jedoch schließlich mit tiefen Einsichten in das Wesen der Materie belohnt.

Alles ist miteinander verknüpft

Es scheint so, dass sich unsere Gesellschaft in ihrer Gesamtheit gegenwärtig in einer ähnlichen Krise befindet. Nur ist unsere heutige Krise noch wesentlich dramatischer, da das Überleben der gesamten Menschheit auf dem Spiel steht.

Je mehr man sich mit diesen schwerwiegenden Problemen beschäftigt, desto mehr kommt man zur Einsicht, dass es sich hier um systemische Probleme handelt, das heißt, um Probleme, die alle miteinander verknüpft und voneinander abhängig sind.

Die Krise der Wahrnehmung

Die Grundthese lautet deshalb, dass all diese Probleme letztlich als unterschiedliche Facetten ein und derselben Krise gesehen werden müssen, welche im Wesentlichen eine Krise der Wahrnehmung ist. Sie ist eine Folge der Tatsache, dass die meisten unter uns, und vor allem unsere mächtigen gesellschaftlichen Institutionen, an einem überholten Weltbild festhalten, an einer Weltanschauung, die zur Lösung der vielfältigen Probleme in unserer global vernetzten Welt ungeeignet ist. Erst wenn wir die Welt anders wahrnehmen, werden wir anders handeln können.

Gleichzeitig wird an den Grenzbereichen der Wissenschaft und gesellschaftlichen Bewegungen eine neue Sicht der Wirklichkeit entwickelt, welche die Grundlage unserer zukünftigen Technologien, Wirtschaftssysteme und gesellschaftlichen Institutionen bilden wird. Ein tiefgreifender Wandel unserer Weltbilder und Wertvorstellungen, der sogenannte „Paradigmenwechsel“.

Paradigmenwechsel

Das Weltbild oder Paradigma (Modell, Muster), das jetzt langsam zurücktritt, hat unsere Kultur mehrere hundert Jahre lang beherrscht und hat während dieser Zeit die ganze Welt wesentlich beeinflusst. Es enthält eine Anzahl von Ideen und Wertvorstellungen: darunter die Auffassung, das Universum sein ein mechanisches System, das aus materiellen Grundbausteinen besteht; das Bild des menschlichen Körpers als einer Maschine; die Vorstellung des Lebens in der Gesellschaft als eines ständigen Konkurrenzkampfes um die Existenz; dem Glauben an unbegrenzten materiellen Fortschritt durch wirtschaftliches und technisches Wachstums; und – nicht zuletzt! – den Glauben, dass eine Gesellschaft, in der das Weibliche überall dem Männlichen untergeordnet ist, einem grundlegenden Naturgesetzt folgt. Alle diese Annahmen haben sich während der letzten Jahrzehnte als sehr begrenzt erwiesen und bedürfen einer radikalen Neuformulierung.

Teile und Ganzheiten

Alle lebenden Systeme sind Ganzheiten, deren spezifische Strukturen sich aus den wechselseitigen Beziehungen und Abhängigkeiten ihrer Teile ergeben. Obwohl wir in jedem System Einzelteile unterscheiden können, ist das Ganze immer etwas anderes als die bloße Summe seiner Teile. Im absoluten Sinne existieren Teile und Ganzheiten überhaupt nicht. Arthur Koestler hat das Wort „Holonen“ geprägt für diese Untersysteme, die zugleich Ganzes und Teil sind. Er hat betont, dass jedes Holon zwei entgegengesetzte Tendenzen verfolgt: Eine integrierende Tendenz möchte als Teil des größeren Ganzen fungieren, während eine Tendenz zur Selbstbehauptung die individuelle Autonomie zu bewahren strebt. Diese beiden Tendenzen sind gegensätzlich und doch komplementär. In einem gesunden System – einem Individuum (individuelles Holon) oder einer Gesellschaft (soziales Holon) – halten sich Integration und Selbstbehauptung im Gleichgewicht. Dieses Gleichgewicht ist nicht statisch, sondern besteht aus einem dynamischen Wechselspiel zwischen den beiden komplementären Tendenzen, was das gesamte System flexibel und offen für den Wandel hält.

Selbstbehauptung und Integration

Nunmehr wird die Beziehung zwischen der modernen Systemlehre und dem alten chinesischen Denken deutlich. Die chinesischen Weisen scheinen die grundlegende Polarität erkannt zu haben, welche lebende Systeme kennzeichnet. Selbstbehauptung erreicht man durch Yang-Verhalten, wenn man fordernd, aggressiv, wettbewerbs-, und nach außen orientiert ist, und – soweit es sich um menschliches Verhalten handelt – durch Anwendung linearen, analytischen Denkens. Integration wird gefördert durch Yin-Verhalten; dann ist man empfangend, kooperativ, intuitiv und umweltbewusst. Sowohl Yin als auch Yang, die integrierenden und selbstbehauptenden Tendenzen, sind für harmonische gesellschaftliche Beziehungen notwendig.

Das Tao als kosmischer Prozess

Für die chinesischen Philosophen war die Wirklichkeit, deren innerstes Wesen sie Tao nannten, ein Prozess kontinuierlichen Fließens und Wandels. Ihrer Anschauung nach nehmen alle Vorgänge, die wir beobachten, an diesem kosmischen Prozess teil und sind auf diese Weise von Natur aus dynamisch. Es ist eine Haupteigenschaft des Tao, dass seine ständige Bewegung zyklisch verläuft. Alle Entwicklungen in der Natur – die physischen ebenso wie die psychischen und die gesellschaftlichen – laufen zyklisch ab. Die Chinesen geben dieser Idee durch Einführung der polaren Komplemente Yin und Yang eine definitive Struktur, wobei die beiden Pole den Zyklen des Wandels Grenzen setzen. Nachdem das Yang seinen Gipfel erreicht, zieht es sich zugunsten des Yin zurück; hat das Yin einen Gipfel erreicht, zieht es sich zugunsten des Yang zurück. Das Universum befindet sich in pausenloser Bewegung und Aktivität, in einem kontinuierlichen kosmischen Prozess, den die Chinesen das Tao – den „Weg“ – nannten. Enthält man sich jedes naturwidrigen Handelns, dann ist man in Harmonie mit dem Tao, und dann wird das eigenen Handeln erfolgreich sein.

Polarität und Dualität

Polarität ist die lebendige Konstellation des Sich-Ergänzenden, des Sich-Entsprechenden, des Einander-Bedingenden: Tag und Nacht; männliches und weibliches Prinzip; Angst und Vertrauen; Arbeitnehmer und Arbeitgeber sind beispielsweise Polaritäten, die man nicht ungestraft als sich gegenseitig bekämpfende und einander ausschließende Gegensätze werten darf. Ihre voneinander abhängigen und aufeinander bezogenen Pole bilden eine Ganzheit und bewirken die das Leben ermögliche Spannung, die auch Voraussetzung des Schöpferischen ist.

Dualität, Dualismus ist die Lehre von der Zweiteilung und Gegensätzlichkeit der Dinge durch unsere Ratio. Gegensätze sind unvereinbar, einander bekämpfende Größen, sie spalten die Wirklichkeit, wie es durch das „Entweder-Oder“ geschieht. Die ungenügende Unterscheidung zwischen Polarität und Dualismus führt noch immer zu Fehlinterpretationen; dadurch wird gefeindlicht, was aufeinander angewiesen ist. Unsauberes Denken hat sich noch immer gerächt. Verworrenes Denken folgt stets verworrenes Handeln.

Integrales Bewusstsein

Der Versuch, die Konsequenzen aus den neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen zu ziehen, eröffnet uns den Zugang zu der neuen Wirklichkeitserfassung integraler Art. Denn das Diesseits ist im Jenseits enthalten, der Tod im Leben, das Sichtbare im Unsichtbaren und das hiesige Handeln im meditativen Geistigen. Sie sind keine Dualitäten, keine Gegensätze, sondern einander ergänzende Polaritäten. Wem diese Zusammenhänge transparent werden, der ist bereits vom integralen Bewusstsein geprägt und nimmt die Möglichkeiten der neuen Wirklichkeit wahr. In dem Maße, wie wir das neue, das integrale Bewusstsein auszubilden vermögen, wachsen uns die Kräfte zu, dank derer wir der Menschheit und damit auch uns die Chance geben, noch einmal zu überleben.

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