Was können wir tun in einer Zeit, in der das Vertraute stirbt? Sterbebegleitung ist eine intergenerationelle Verantwortung, ein Akt der Liebe. Das bedeutet, sich der Verabtwortung gegenüber den Vorfahren, die vor uns da waren, und den Nachfahren, die nach uns kommen werden, bewusst zu sein.
Würdevolle Sterbebegleitung für eine vergehende Welt und der Aufbruch des Neuen.
Die Moderne stirbt
Ich verstehe die Moderne als eine lebendige Geschichte, die durch verschiedene Merkmale gekennzeichnet ist. Sie ist eine einzigartige Erzählung über Fortschritt, die Entwicklung und die Zivilisation, die in uns lebendig ist. Und sie ist so wirkmächtig, dass sie die Art und Weise bestimmt, wie wir uns zur Welt verhalten, wie wir denken, uns etwas vorstellen, hoffen, Emotionen und Traumata verarbeiten, und die unsere Möglichkeiten konditioniert, miteinander in Beziehung zu treten oder andere Zukünfte zu gestalten und zu ermöglichen.
Wir können die Moderne als ein Haus auf einem Planeten beschreiben, das die Grenzen des Planeten überschreitet. Damit sind die planetarischen Grenzen gemeint.
In diesem Haus gibt es zwei tragende Wände. Die eine ist der moderne Nationalstaat, von dem wir glauben, er sei dazu da, die Menschen zu schützen. Aber die Geschichte zeigt, dass er die Menschen nur so lange schützt, wie er auch Eigentum und Kapital schützt.
Die andere tragende Wand ist die Geschichte von Fortschritt, Entwicklung und Zivilisation, die sich als eine universell gültige Geschichte präsentiert. Und weil eine militärische Macht hinter ihr steht, vernichtet sie – indem sie sich durch internationale Entwicklung und Bildung durchsetzt – all die anderen Geschichten und Möglichkeiten.
Das Haus hat auch ein Dach, und das ist der globale, algorithmische Shareholder-Value-Kapitalismus, der sich aus dem industriellen Kapitalismus entwickelt hat.
Das Haus zerfällt
Die Moderne befindet sich in einem Zustand des Zerfalls, weil sie die Grenzen des Planeten überschritten hat. Um weiterexistieren zu können, muss das Haus den Planeten weiterhin ausbeuten. Deshalb gibt es in diesem Haus übermäßigen Konsum und eine Überproduktion von Abfall.
Mit diesem System sind wir an einen Punkt angelangt, an dem das Haus der Moderne voller Krisen ist: soziale Krise, Krise der seelischen Gesundheit, ökologische Krise, Krise der Demokratie, Krise der Beziehungen und eine zunehmende Polarisierung innerhalb der Gesellschaft.
Das Haus wurde errichtet, um Tod, Trauer und Verlust zu beherrschen und eine bestimmte Bevölkerungsgruppe zu schützen. Es versprach zwar, alle zu beschützen, aber letztlich schützte es eine ganz bestimmte Bevölkerungsgruppe vor Veränderungen und dem, was als Naturgewalt empfunden wurde. Es versuchte, Menschen eine Position zu verleihen, die durch Dominanz und Kontrolle geprägt ist. Die Geschichte der Moderne handelt von der Konstruktion einer perfekten Gesellschaft – mithilfe von Wissenschaft und Technologie.
Das Haus der Moderne hat gerade derzeit so viele Geschichten zu erzählen und so viel Wut und Angst im Zusammenhang mit dem Sterbeprozess zu verarbeiten, dass wir uns gar nicht die benötigte Ruhe nehmen, uns mit den Geschichten auseinanderzusetzten und die Lektionen daraus zu lernen. Stattdessen drehen wir uns weiter im Kreis.
Würdevolle Sterbebegleitung und vorgeburtliche Begleitung
In der würdevollen Sterbebegleitung geht es darum, das Sterben mit Integrität und Würde zu begleiten. Sie ist eine Einladung, dem, was in uns und um uns herum stirbt, eine palliative, umsorgende Zuwendung anzubieten – damit dieses Sterben in Würde und Integrität stattfinden kann.
Gleichzeitig bedeutet würdevolle Sterbebegleitung auch, dass durch das Sterben Energie und Zeit freigesetzt werden und ein Teil dieser so entstehenden Ressourcen als vorgeburtliche Begleitung für das verwendet werden kann, was geboren werden will, jedoch ohne es mit Projektionen und Idealisierungen zu ersticken.
Anstatt uns bereits das Neue vorzustellen, lernen wir durch das, was stirbt, das Ergebnis von etwas Unvorstellbarem geschehen zu lassen.
Für diesen Prozess lassen wir bestimmte Vorstellungen los, die das Haus der Moderne konditioniert hat, und reaktivieren einige Fähigkeiten, die aus dem Haus verbannt wurden. Dieses loslassen ist am Anfang schmerzhaft. Zum Beispiel der starke Wunsch nach Gewissheit. Nehmen wir die Ungewissheit an und lassenund von ihr durchdringen, verbinden wir uns mit dem Wandel und tanzen mit ihm.
Wir müssen auch den Wunsch unterbrechen, Dinge zu konsumieren, ohne sie zu verdauen. Wir konsumieren so vieles, nicht nur Dinge, sondern auch Wissen, Informationen, Kritik, Geschichten, aber wir lassen sie nicht verdauen. Deshalb entsteht eine enorme Verstopfung durch Dinge, die unverarbeitet geblieben sind.
Wir müssen uns in die Lage versetzen, den schmerzhaften Dingen, die geschehen sind und nach wie vor geschehen, zu stellen, aber auf eine Art und Weise, in der sie kompostiert, also zum Humus werden. Kompostieren bedeutet, dass wir die Dinge auf eine regenerative Weise verarbeiten und sie dabei in neue Erde verwandeln, ohne in Schmerz, Traurigkeit, Ärger, Frustration oder Groll zu ertrinken.
Quelle
Dieser Text basiert auf einem Interview mit Dr. Vanessa Machado De Oliveira Andreotti