Vom Sein und Tun –
Die Balance von Yin und Yang
Wer sein Leben aktiv selbst in die Hand nehmen will, muss auch lernen, wann er loslassen und sich fügen muss, wann er sich dem Strom überlassen muss, ohne sich zu wehren. Loslassen oder In-die-Hand-nehmen – das ist natürlich auch wieder nur eine andere Formulierung der Frage von Sein oder Tun, jener uralten Polarität von Yin und Yang, die tausend Gestalten annimmt und nie
auszuschöpfen ist.
Nicht das Yin oder Yang richtig wäre oder Sein besser als Tun – man muss vielmehr die Balance finden, die natürliche Harmonie von Yin und Yang, die von den alten Chinesen Tao genannt wurde. Tun und Sein, beherrschen und zulassen, Widerstand und Öffnung, Kampf und Ergebung, wollen und annehmen – hier den Ausgleich, die Balance zu finden.
Letztlich läuft alles darauf hinaus: Wo immer wir hingehen, da sind wir. Was immer wir tun, ist, was wir tun. Was immer wir jetzt denken, das haben wir im Sinn. Was auch immer uns widerfahren sein mag, ist bereits geschehen. Die entscheidende Frage ist, wie wir damit umgehen, mit anderen Worten:“ Was jetzt?“
Mit diesen Worten beginnt Jon Kabat-Zinn sein Buch „Im Alltag Ruhe finden“.
Das Paradox des Nicht-Tuns
Der Genuss und die reine Freunde des Nicht-Tuns sind für Menschen der westlichen Welt meist schwer zu begreifen, weil unsere westliche Kultur so viel Wert auf das Tun und den Fortschritt legt. Selbst in unserer Freizeit sind wir gewöhnlich geschäftig und achtlos. Die Freude des Nicht-Tuns besteht darin, dass nichts anderes zu geschehen braucht, damit dieser Augenblick in sich vollständig ist. Die Weisheit, die darin liegt, und der Gleichmut, der daraus erwächst, sind in dem Wissen begründet, dass sicher etwas anderes folgen wird.
Nicht-Tun kann sich sowohl im Tätigsein als auch im Zustand der Stille manifestieren. Die innere Stille des Handelnden verschmilzt mit der äußeren Aktivität in einem solchen Maß, dass die Handlung sich selbst ausführt. Nichts wird erzwungen. Es gibt keine Willensanstrengung, kein engstirniges „ich“, „wir“ oder „mein“, das ein Ergebnis für sich reklamiert, und doch bleibt nichts ungetan. Nicht-Tun ist der Eckstein der Meisterschaft in jedem Tätigkeitsbereich.
Die Praxis des Nicht-Tuns
Nicht-Tun ist nicht gleichbedeutend mit Trägheit und Passivität. Ganz im Gegenteil. Es erfordert großen Mut und viel Energie, Nicht-Tun zu entwickeln, sowohl im Zustand der Stille als auch im Tätigsein. Und es ist auch keineswegs leicht, eine besondere Zeit für das Nicht-Tun zu reservieren und angesichts all der vielen Zwänge unseres Alltagslebens konsequent dabeizubleiben.
Menschen, die das Gefühl haben, sie müssten ständig Dinge erledigen, werden möglicherweise feststellen, dass sie sogar mehr und Besseres „tun“ können, wenn sie sich im Nicht-Tun üben. Nicht-Tun bedeutet ganz einfach, die Dinge sein zu lassen und ihnen zu gestatten, sich auf ihre eigene Weise zu entfalten. Dies kann ungeheure Mühe kosten, doch ist es eine anmutige, auf Wissen gründende mühelose Bemühung – ein „Tun ohne denjenigen der tut“, das zu entwickeln ein ganzes Leben erfordert.
Psychologie: Nicht-Tun als Ausgleich zum geschäftigen Alltag
„Beim Nicht-Tun bleibt nichts ungemacht“, heißt es bereits in der altchinesischen Spruchsammlung Tao Te King. Ob diese wirklich vom legendären Philosophen Lao Tse stammt, der im 6. Jahrhundert vor Christus gelebt haben soll, ist ungewiss. Doch der Rat gilt noch heute: Viele Psychologen, Philosophen und Managementtrainer raten zum Innehalten – oder dazu, eine Zeit lang absolut nichts zu tun.
„Pausen sind nicht nichts, sind kein zeitliches Refugium für Faulenzer und Drückeberger“, mahnt der „Zeitforscher“ Karlheinz A. Geißler. Pausen seien vielmehr der „Humus für Gelegenheiten, die es sonst nicht gäbe, für wichtige Erfahrungen und einmalige Erlebnisse“. Geißler: „Pausen sind Leuchttürme des Daseins, die den Aktiven den Weg weisen und sie bewahren, an den Untiefen ihres Tuns zu scheitern.“ Selbst Gott habe bei der Erschaffung der Welt am siebten Tag eine Pause eingelegt: „Ohne sie hätte er sich nicht sicher sein können, ob das, was er getan hatte, gut oder weniger gut gelungen war.“ Laut Bibel sei die Pause also unverzichtbarer Teil jeder kreativen Arbeit, urteilt der emeritierte Professor.
Die Beziehung zwischen Sein und Tun
Sein ist grundlegender als Tun. Dies ist eigentlich eine banale Feststellung. Ohne dass es uns gibt, werden wir schwerlich etwas tun können. Umgekehrt ist dies eher vorstellbar. Pures Dasein, ohne jede Aktivität unsererseits, ist in vielen Traditionen das Ziel meditativer Praxis.
Unsere Kultur suggeriert uns das Gegenteil. Alles dreht sich um das, was wir tun, ersatzweise auch um das, was wir haben. Wer wir sind, scheint dagegen unbedeutend und interessiert allenfalls Philosophen in deren Elfenbeinturm.
Mit Tun ist dabei nicht nur äußeres Handeln gemeint. Auch unsere Gedanken und Gefühle sind gefragt. Unsere Gedanken als Hort von Verstand und Vernunft genießen spätestens seit der Aufklärung höchste Wertschätzung. Unsere Gefühle, über viele Jahrhunderte weniger im Focus, holen in den letzten Jahrzehnten stark auf.
Gewahrsein unserer Gefühle
Mit dem Gewahrsein unserer Gefühle sind wir schon näher an dem dran, was wir sind, nicht mehr ganz so verschmolzen mit unserem Denken und Handeln. Aber vom Fühlen zum Sein ist es noch ein gewichtiger Schritt. Ob uns unsere Gefühle näher zum Gewahrsein unseres Seins führen oder nicht, hat wesentlich damit zu tun, wie wir mit unseren Gefühlen umgehen. Je weniger wir sie bewerten und damit in die Funktionszusammenhänge unseres Denkens und Handelns einspannen, desto mehr bringen uns unsere Gefühle mit tieferen Ebenen unseres Seins in Kontakt.
Vor allem wenn wir lernen, Gefühle erstmal da sein zu lassen und sie auf diese Weise anzunehmen, desto mehr helfen sie uns, von unbewusster, zwanghafter Aktivität loszulassen und einfach da zu sein.
Die Polarität von Sein und Tun
Die Polarität von Sein und Tun ist in unserer Kultur mit der Polarität der männlich/weiblichen Rollenverteilung verknüpft. Bei “Tun-Werten” geht es darum, etwas zu produzieren, zu machen, zu erreichen; sie sind häufig aggressiv, konkurrenzorientiert und hierarchisch; sie sind auf die Zukunft ausgerichtet und ruhen auf einer Basis von Regeln und Urteilen. Tun-Werte haben als Grundausstattung die Veränderung des Gegenwärtigen zu etwas “Besserem”. “Seins-Werte” dagegen haben das Annehmen des Gegenwärtigen zum Inhalt: Menschen akzeptieren als das, was sie sind, nicht nach Maßgabe dessen, was sie tun; zentral in der Welt der Seinswerte sind Beziehungen, Einbeziehen, Annehmen, Mitempfinden und Fürsorge. Beide Arten von Werte sind gleich wichtig.
Suche die Balance von Sein und Tun, den Ausgleich zwischen dem Annehmen deiner selbst und der Entschlossenheit, das an dir zu ändern, was geändert werden muss. Sein bedeutet: loslassen und Gott lassen, annehmen, vertrauen, verzeihen. Tun heißt: Verantwortung übernehmen für die Dinge – und nur diese -, die geändert werden können, und dann so zielstrebig wie möglich darauf hinarbeiten.
Fazit
Die Balance finden zwischen dem Lebenswillen und dem Annehmen des Todes. Beide sind notwendig.
Eine gelungene Integration von Sein und Tun können wir als evolutionäre Aufgabe für die Menschheit verstehen.