Inhalt
Familie ist ein System, das wir verstehen müssen
Wenn Kinder Elternrollen übernehmen
Wenn die familiäre Geschichte sich wiederholt
Warum Eltern ihre Kinder überfordern
Wer alles anders macht, ist auch nicht frei
Familie ist ein System, das wir verstehen müssen, um heil oder ganz zu werden.
Wir werden nicht einfach in unsere Familie hineingeboren, sondern in die Geschichte unserer Familie, die uns stützen und nähren und manchmal zum Krüppel machen. [Monica McGoldrick]
Wir alle sind geprägt von den Erfahrungen unserer Eltern und Großeltern und so ziehen sich Konflikte, Verletzungen und Geheimnisse oftmals wie ein roter Faden durch mehrere Generationen. Je mehr wir über unsere Familie wissen, desto eher können wir uns aus den alten Fallstricken befreien und ein selbstbestimmtes und glückliches Leben führen.
In Wirklichkeit aber ist kein Ich, auch nicht das naivste, eine Einheit, sondern eine höchst vielfältige Welt, ein kleiner Sternenhimmel, ein Chaos von Formen, Stufen und Zuständen, von Erbschaften und Möglichkeiten. [Hermann Hesse]
Auch in Familien schleichen sich Fehler ein – und oft werden sie über Jahrzehnte und Generationen nicht korrigiert. Weil unsere Eltern unsere ersten Lehrer sind, glauben wir ihnen alles. Wir vertrauen ihnen, wir lieben sie und wir verteidigen vor allem das, was wir in der Kindheit gelernt haben.
Wissenschaftliche Forschungen über transgenerationale Übertragung – also die Weitergabe von schmerzlichen Lebensthemen und unverarbeiteten Gefühlen von einer Generation an die nächste – zeigen, dass viele Menschen in unbewussten Wiederholungsschleifen feststecken oder ein Leben leben, das ihnen leer erscheint, weil sie nicht wissen und nicht verstehen, was sie bindet und lenkt.
Sinnkrisen, Beziehungsprobleme, psychische oder psychosomatische Erkrankungen, Süchte oder Suizidgedanken sind oft die Folge von unerfüllten Lebensläufen, deren Muster bereits Generationen zuvor angelegt wurden.
Je mehr wir über die Vergangenheit unserer Familie wissen und verstehen, in welche familiären Geschichten wir verstrickt sind, desto eher können wir uns aus ihnen lösen. [Sandra Konrad]
Die Macht der Familie
Unsere Familie ist die Schablone, die uns formt, sie bietet den Parcours, in dessen Grenzen unser Leben die ersten Jahre verläuft. Was unsere Eltern wollen, ist Gesetz. Sie wissen, was Richtig für uns ist; Sie kennen uns besser als wir uns selbst; Sie haben ein Bild von uns, das sich manchmal verwirklicht und manchmal in 1000 Stücke bricht, nämlich dann, wenn wir gegen das Vorgegebene aufbegehren oder ihm nicht entsprechen.
Es ist der Lauf der Dinge, Zeichen einer gesunden Entwicklung, dass wir uns ablösen von den Eltern und uns aufmachen, uns selbst zu finden.
Auf unserer Reise durchs Leben tragen wir familiäre Erwartungen, Wünsche, Aufträge und Botschaften oft wie sperriges Gepäck mit uns herum. Schwierig wird es, wenn wir neben dem Wünschepaket unserer Eltern auch noch das emotionale Gepäck unserer Vorfahren tragen: Opas Existenzängste, Omas Verluste und Papas Versagensängste werden genauso transportiert wie Mamas tiefe Selbstzweifel oder ihr Hang zur Melancholie. Besonders stark wirken traumatische Erlebnisse, die nicht verarbeitet wurden und trotzdem im Familiengedächtnis gespeichert sind.
Familiäre Wünsche
Nichts hat einen stärkeren psychischen Einfluss auf die Kinder als das ungelebte Leben der Eltern. [C.G. Jung]
Wir alle unterliegen familiären Aufträgen. Befreien können wir uns erst, wenn wir verstehen, welche Aufträge überhaupt an uns gerichtet wurden, und wenn wir uns bewusst entscheiden, diese nicht mehr zu erfüllen.
Dem Erstgeborenen wird häufig auferlegt, vernünftig zu sein, die ehrgeizigen elterlichen Erwartungen zu erfüllen und den Geschwistern mit gutem Vorbild voranzugehen. Dem jüngsten Kind wird die Rolle des Nesthäkchens oft regelrecht verschrieben, wird mehr verwöhnt, soll aber im Gegenzug der gesamten Familie zu mehr Leichtigkeit verhelfen. Das mittlere Kind, geprägt durch die Stellung zwischen den Geschwistern, bekommt dann den Auftrag, zwischen allen Familienmitgliedern zu vermitteln, eine emotionale Balance herzustellen.
Rebelliert ein Kind gegen eine vorgeschriebene Rolle, kann das familiäre System kippen – oder sich im Idealfall weiterbewegen und auf einem gesünderen Niveau einpendeln.
Nicht immer sind die übergebenen Rollen maßgeschneidert für uns oder einfach auszuführen. Manchmal können wir in sie hineinwachsen. Und manchmal, wenn sie zu groß oder zu eng sind, wir nicht aus ihnen aussteigen dürfen oder können, zerbrechen wir an ihnen.
Wenn Kinder Elternrollen übernehmen
Psychisch kranke Eltern können ihre Kinder oft nicht adäquat versorgen. Traumatisierte, depressive, alkohol- oder drogenabhängige oder schwer bindungsgestörte Eltern können (nachvollziehbarerweise) nicht angemessen auf die emotionalen Bedürfnisse ihrer Kinder eingehen.
Eine für ein Kind doppelt ungünstige Rollenvorgabe ist die des Partnerersatzes für ein Elternteil. In konflikthaften Paarbeziehungen oder nach Trennungen wird einem Kind häufig die Rolle eines erwachsenen Partners zugeschrieben. Das Kind soll dann neben Kummerkasten, bestem Freund, erwachsenem Gesprächspartner vor allem liebevoller Lebensgefährte sein. Wie bei jeder Rollenumkehr werden altersungerechte Aufgaben vom Kind verlangt, die es überfordern und es darüber hinaus auf ungesunde Art an den Elternteil binden.
Kinder, die auf diese Art an ihre Eltern gebunden werden, haben meist große Schwierigkeiten bei der Ablösung. Wut- und Schuldgefühle wechseln einander ab, einige Kinder bleiben für immer zu eng an die Eltern gebunden, andere wehren sich mit Händen und Füßen gegen diese Vereinnahmung, bis hin zum Kontaktabbruch.
Der Weg der Ablösung ist steinig und erfordert die Formulierung der eigenen Bedürfnisse und das setze von Grenzen – ohne schlechtes Gewissen.
Wenn die familiäre Geschichte sich wiederholt
Eltern, die ihr Kind über einen längeren Zeitraum emotional nicht ausreichend versorgen können, sind entweder psychisch krank oder aber selbst als Kind nicht ausreichend versorgt worden. Diese Störung in einer Eltern-Kind-Beziehung hat dramatische Auswirkungen auf die Folgegenerationen, denn das emotional nicht ausreichend versorgte Kind wird Schwierigkeiten haben, später als Erwachsener seine eigenen Kinder entsprechend zu versorgen.
Auch wenn die Vergangenheit auf jeden Einzelnen beträchtlich wirkt und wir uns ihr mitunter nicht ohne Blessuren entziehen können, ist niemand gezwungen, willenlos die Kette familiärer Fehlentwicklungen weiterzuführen.
Eine Familie funktioniert nicht ohne Regeln, Rollen und Aufträge. Im Idealfall wachsen die Aufgaben mit dem Alter und der zunehmenden Reife, nicht umgekehrt. Das familiäre System lebt durch ein Geben und Nehmen seiner Mitglieder und das Austarieren der einzelnen Bedürfnisse mit dem großen Ganzen. Rollen geben Halt, Aufträge verleihen unserem Dasein eine Richtung und Sinn – wenn sie uns entsprechen und wir sie erfüllen können.
Warum Eltern ihre Kinder überfordern
Wenn ein Kind die elterlichen Anforderungen nicht mehr erfüllen kann oder will, wird es sich überfordert und beschämt fühlen. Halten die Eltern an ihren nicht erfüllbaren Erwartungen fest, wird das Kind lernen, dass die Zuneigung seiner Eltern an Bedingungen geknüpft ist und dass es nicht um seiner selbst willen geliebt wird, sondern nur als das Abbild der elterlichen Wünsche. Auf diese Weise entwickelt sich das Gefühl der Entwertung, das sich mit der Zeit in selbstzerstörerischen Glaubenssätzen manifestieren könnte: „Du bist nicht gut genug; du bist wertlos; du bist nicht liebenswert.“
Eltern können auch ihren Kindern Leistungen auftragen, die diese dann stellvertretend erbringen, um somit ihren eigenen Selbstwert zu erhöhen. Immer dann, wenn Leistung kompensatorisch für etwas anderes, meist das Gefühl für den eigenen Wert, gebraucht und gefordert wird, entstehen so leistungsorientierte Gefüge, dass darin ein vermeintlich erfolgloses Kind nicht ertragen werden kann. Der Misserfolg des Kindes bedeutet eine Kränkung der Eltern.
Wenn Eltern wollen, dass ihre Kinder es mal besser haben als sie, opfern sie sich für diese auf, kämpfen darum, ihr Kind auf die beste Schule zu schicken, bezahlen Nachhilfelehrer und Privatschulen. Diese Eltern erscheint es nicht so, als würden sie einen Leistungsanspruch an die Kinder erheben, sondern eher so, als würden sie ihnen die Welt zu Füßen legen. Die unausgesprochene und oft unbewusste Verpflichtung lautet hier: Sei dankbar und nutze die Chancen, die wir die ermöglichen.
„Leistung für neuen Stallgeruch“: Nach diesem Prinzip handeln Leistungskämpfer, die sich hochgearbeitet haben und ihre Eltern in Bildung, Wohlstand, Intellekt und Weltgewandtheit aus eigenem Antrieb überflügelt haben. Manchmal dient diese elitäre Entwicklung dazu, sich von den Eltern oder der gesamten Familie zu distanzieren. Mancher Aufsteiger möchte nicht an seine familiäre Vergangenheit erinnert werden, weil er sich für seine Herkunft schämt.
Bis das der Tod uns scheidet
Erfährt ein Aufsteiger, dass sein Kind sitzen bleibt, nicht wie gewünscht Abitur/Karriere macht, wirkt diese peinliche Erinnerung an die Vergangenheit, von der er sich so gründlich zu entfernen versucht hat. Wenn Leistung Liebe ersetzt, Eltern fordern, ohne zu geben, Kinder intellektuell oder emotional überfordert sind, dann kehrt sich der gut gemeinte Ansatz um. „Das Gegenteil von Gut ist nicht Böse, sondern gut gemeint.“ [Kurt Tucholsky]
Eine typische Überlebensstrategie ungeliebter, vernachlässigter Kinder ist das Streben nach Aufmerksamkeit, Erfolg und Macht. Dahinter verbirgt sich die Sehnsucht, gesehen, gehört, geachtet zu werden – geliebt zu werden. Das vermeintliche Selbstbewusstsein ist nur Fassade, der Ehrgeiz Getriebenheit. Nur hinter der Fassade nimmt man die Brüche wahr, die emotionale Distanz, die sie von den Eltern kannten und die sie heute in Beziehungen schützt. Und gleichzeitig die vorhandene tiefe Sehnsucht nach Geborgenheit und Sicherheit.
Wir alle bleiben bis zu unserem Tod die Kinder unserer Eltern, und ganz tief in uns steckt die Sehnsucht nach Versöhnung mit ihnen. Lob, Zustimmung und Anerkennung sind emotionale Güter, die schwer wiegen. Viele Menschen sind bis zu ihrem Tod zu eng an ihre Familie gebunden. Auch wenn sie emotionales Schmerzensgeld beziehen durch ihre machtvolle familiäre Stellung, fehlen wichtige Entwicklungsschritte in die Eigenständigkeit. Manchmal hilft aus dem Familiengefängnis nur die Flucht, bestenfalls ans andere Ende der Welt – schlimmstenfalls in den Tod.
Loyalität in der Familie
Familiäre Loyalität ist eine Art Treuepakt, der in unserer Kindheit geschmiedet wird und haltbarer ist als jeder rechtlich geschlossene Vertrag. Loyalität in der Familie folgt anderen Regeln als Loyalität in anderen Beziehungen. a) Sie ist nicht kündbar. b) Sie entsteht nicht zwischen gleichberechtigten Partnern. c) Sie entsteht durch Geburt und sowohl durch die Fürsorge unserer Eltern als auch durch unsere Abhängigkeit von ihnen. Wir sind loyal aus Dankbarkeit, aber man findet Loyalität auch dort, wo Eltern nichts getan haben, außer ihrer Kindern das Leben zu schenken. Aus Loyalität schützen wir Familienmitglieder, wir schonen sie, wir übernehmen ihre Werte. Wir verteidigen ihre Werte sogar vor anderen, wenn sie von unseren eigenen abweichen. Man muss einen Menschen nicht einmal besonders mögen, um ihm gegenüber loyal zu sein. Es reicht mit ihm verwandt zu sein.
Die meisten Menschen kennen aber auch die inneren Ringkämpfe, die entstehen, wenn eigene Lebensentscheidungen nicht die Wünsche der Eltern entsprechen oder wenn das, was die Familie wichtig und richtig findet, uns unaufhörlich wegführt von eigenen Träumen und Idealen. Hierin liegen eine existenzielle Entwicklungsaufgabe für jeden Menschen – sich von der Familie abzulösen, ohne sie insgesamt zu verneinen, und neue Loyalitätsbeziehungen zum Partner und eigenen Kindern einzugehen.
Mit der Loyalität verhält es sich ähnlich wie mit der Liebe: Jeder fühlt sie (zu jedem) anders, jeder beschreibt sie anders, sie kann uns Geborgenheit geben oder uns ins Unglück stürzen. Bereits kleine Kinder sind ihren Eltern gegenüber loyal, sie haben ausgezeichnete Antennen für die Erwartungen ihrer Eltern und tun automatisch eine Menge, um diese glücklich zu machen.
Wer alles anders macht, ist auch nicht frei
Eine andere Form der unbewussten Loyalitätsbindung herrscht, wenn wir alles, für das unsere Eltern stehen, rigoros ablehnen. Wer alles verneint, kann nicht mehr differenzieren. Und dann kommt manches, was wir aus unserem Leben ausschließen wollten, plötzlich wie ein Bumerang zurück.
Im blinden Kampf um die Entwertung unserer Eltern, im absoluten Zurückweisen jedes Auftrags werden wir ihnen manchmal ähnlicher, als uns bewusst ist. Meist wird uns dann von unseren Partnern der Spiegel vorgehalten, wenn sie uns vorwerfen: „Du bist genauso wie deine Mutter/dein Vater.“
Unsere Eltern sind immer gegenwärtig, auch wenn wir versuchen, sie „auszusperren“. Wir bleiben für immer die Kinder unserer Eltern, und die Prägungen, die wir durch sie erfuhren, sind nicht auszuradieren. Wir bleiben auch über ihren Tod hinaus mit ihnen verbunden.
Auch elternlose Menschen sind geprägt durch ihre familiäre Vergangenheit, die Verbindungen sind meist nur schwerer aufzudecken. Wir alle haben eine Vergangenheit, die weit vor den Zeitpunkt unserer Zeugung zurückreicht. All das, was unsere Eltern und Großeltern erfahren haben, wird in unserem Leben auf die ein oder andere Weise spürbar sein, sich mitunter wiederholen, uns stärken, schwächen und in den ein oder anderen Konflikt stürzen.
Ablösung ist eine lebenslange Aufgabe, sie ist eng gekoppelt an die Sinnfrage, die wir uns im Erwachsenenleben immer wieder stellen. Ob wir die Aufträge unserer Eltern und Vorfahren annehmen oder sie rigoros ablehnen: Solange eine Lähmung oder ein Kampf in unserem Inneren besteht, ist keine gesunde, reife Ablösung erfolgt. Absoluter Widerstand gegen die Eltern bedeutet nicht, ein eigenständiges Leben zu führen, es bedeutet lediglich, noch im Kampf mit den Eltern zu sein.
Ablösungsprozesse verlaufen selten geradlinig und schnell, wie fahren Kurven, fallen zurück, es geht rauf und runter, aber im Idealfall kommen wir uns selbst dabei näher, ohne unsere Familie und das, was uns wirklich wichtig ist, zu verlieren.
Familie ist mehr als nur Vater, Mutter, Kind – Das emotionale Erbe
Familien sind mehr als nur Vater, Mutter, Kind. Es sind generationenalte, gewachsene Systeme mit eigenen Gesetzen, Erwartungen und Verpflichtungen. Und wir alle werden nicht nur in unsere Familien, sondern auch in ihre uralten Geschichten, Konflikte und Verletzungen hineingeboren.
Neben den Genen unserer Vorfahren übernehmen wir auch die Art, wie sie leben. Wir lernen über Beobachten und Nachahmung unserer Eltern und die Identifikation mit ihnen, wie Beziehungen funktionieren, wie mit Konflikten umgegangen wird, welche Rollenvorbilder und Regeln angemessen sind. Gleichermaßen sind wir ihnen durch Liebe und Loyalität verbunden und versuchen, ihre Erwartungen bestmöglich zu erfüllen.
Nichts jedoch prägt uns so sehr wie unsere ersten Bindungserfahrungen, die wir in der Kindheit mit unseren Eltern machen. Sie entscheiden letztlich, wie bindungssicher und psychisch gesund wir werden.
Als Kind sind wir abhängig von unseren Eltern. 1. Wenn sie uns nicht füttern, verhungern wir. 2. Wenn sie uns nicht kleiden, erfrieren wir. 3. Wenn sie uns nicht berühren, sterben wir. Die ersten Jahre unseres Lebens können ein Garten oder eine Wüste für uns sein: Wachsen wir als Kind in einer sicheren, liebevollen Umgebung auf, in der unsere Bedürfnisse angemessen befriedigt werden, entwickeln wir Urvertrauen, ein gutes Selbstwertgefühl und einen sicheren Bindungsstil, der es auch im Erwachsenenalter ermöglichen wird, stabile Beziehungen einzugehen.
Wir sind hingegen häufigen Frustrationen und Zurückweisungen durch unzuverlässige, inkonsequente und vernachlässigende Bezugspersonen ausgesetzt, entwickeln wir negative Annahmen über uns selbst und unser Gegenüber. Ein unsicheres Bindungsverhalten sind die Folge, in denen Sehnsucht und Misstrauen sich die Waage halten.
Bindungserfahrungen
Aus einem „schlecht geliebten Kind“ wird sehr wahrscheinlich ein unsicher gebundener Erwachsener, der Angst vor Nähe und Intimität hat, der nicht glauben kann, dass man es wirklich ernst mit ihm meint. Das, was wir in der Kindheit mit unseren wichtigsten Bezugspersonen erleben, stanzt sich in unser Hirn und unsere Seele. Selbst frühe Erfahrungen aus der vorsprachlichen Zeit, die wir nicht bewusst erinnern können, sind gespeichert – in unseren neuronalen Netzwerken, in unserem Unbewussten und unserem Körpergedächtnis. Die meisten Menschen streben nach Heilung ihrer alten Wunden. Sie sehnen sich ihr Leben lang nach dem, was sie als Kind gebraucht, aber nicht bekommen haben. Sie suchen e sin all ihren Beziehungen, zunächst bei ihren Partnern und später bei ihren Kindern.
Das unsanfte Erwachen folgt meist schon in den ersten Wochen nach deren Geburt, wenn wir erkennen, dass Kinder eigene Bedürfnisse haben und nicht auf die Welt gekommen sind, um unsere zu befriedigen. Wer versucht, mit seinen Kindern alte Wunden heilen zu lassen, fügt ihnen Wunden zu. Wenn Eltern zu wenig Eltern sind, dürfen ihre Kinder zu wenig Kind sein.
Über Bindungserfahrungen werden auch die Gefühle der Eltern auf die Kinder übertragen – im Besonderen schwere seelische Verletzungen, sogenannte Traumata, sind „hochansteckend“.
Trauma
Menschen können ein Trauma erleiden, wenn sie in lebensbedrohlichen Situationen geraten, wenn sie Opfer oder Zeuge von Gewalttaten werden, wenn sie Todesangst haben, die zu Hilflosigkeit, Entsetzen und tiefer Verletzung führt. Ein psychisches Trauma äußert sich im Verlust des Sicherheitsgefühls, mit dem Menschen sich normalerweise durch die Welt bewegen. Ein psychisches Trauma erschüttert bis in Mark, nichts ist mehr so, wie es vorher war.
Traumatisierte sind mit einem Teil ihrer selbst an das Trauma gekettet und den dazugehörigen Erinnerungen und Gefühlen wie Angst, Ohnmacht und Wut hilflos ausgeliefert. Kinder von schwer traumatisierten Eltern übernehmen di Gefühle ihrer Eltern, Gefühle, die für die Eltern so überwältigend sind, dass sie sie abspalten, um sie nicht fühlen zu müssen. Das Unaussprechliche, das Trauma wird dann unbewusst und ungewollt an die weitergegeben, die den Betroffenen am meisten am Herzen liegen: an ihre Kinder.
Als Kind traumatisierter oder psychisch kranker Eltern aufzuwachsen bedeutet, die eigenen Anliegen oft zurückstellen und sich stattdessen um die Eltern kümmern zu müssen. Jede psychische Erschütterung, die in einem Leben nicht zu verarbeiten war, wird sich im Leben der nächsten Generation widerspiegeln – Kriegserfahrungen, Flucht und Migration, Verbrechen, Gewalt, schwere Ungerechtigkeiten, Schuld und Scham. Jeder biografische Bruch, jede massive emotionale Verletzung wird weitergegeben: über Bindungserfahrungen, über die in der Familie erzählten Geschichten und zu großen Teilen auch über die verschwiegenen.
Verschwiegenes und Geheimes
Geheimnisse wirken: Über diese Aussage stolpern viele und zweifeln – wie kann etwas nie Erzähltes, ein Geheimnis, ein Tabu, ein verschwiegenes Detail so eine starke Wirkung entfalten? Nichts ist so wirksam wie das Schweigen. Auch wenn über ein Thema nicht gesprochen wird, wirkt es im Leben eines Kindes weiter und hat Einfluss auf dessen Psyche.
Wenn ein Geheimnis um etwas gemacht wird, gibt es dafür meist einen guten Grund: weil die Gesellschaft, die Familie oder man selbst die Wahrheit nicht gutheißen würde. Geheimnisse schaffen eine Grenze – zwischen denen, die es wissen, und denen, die ausgeschlossen sind. Sie schaffen Ängste, entdeckt zu werden. Und oft genug machen sie ein Problem aus etwas, das – wäre es gleich ausgesprochen worden – kein Problem geworden wäre.
Jede Familie hat ihre kleinen und großen Geheimnisse. Es gibt Geheimnisse, die gesunde und wichtige Grenzen zwischen Generationen herstellen. Und es gibt schädliche Geheimnisse, die krank machen, weil sie auf Lug und Betrug basieren und die Mitglieder täuschen und im Laufe der Zeit zu einer großen Belastung werden. Zudem drängen Geheimnisse auf Entdeckung, auch noch nach Generationen.
Das Verbotene übt eine unerklärliche Anziehungskraft aus, es kommt zu Wiederholungen, die von den Familienmitgliedern unbewusst ausagiert werden, um das alte Geheimnis aufzudecken und ihm somit die transgenerationale Macht zu nehmen.
Familiäres Erbe Suizid
Suizide haben eine unheimliche Sogwirkung. Sie stoßen ab, sie faszinieren. Sie werfen 1000 Fragen auf und machen zugleich sprachlos. En Suizid ist für die Hinterbliebenen sehr schwer zu verwinden, weil sie nicht nur mit der Trauer und dem Verlust eines Menschen konfrontiert sind, sondern auch mit Schuld- und Schamgefühlen, mit Wut und Enttäuschung. Die Wucht eines Suizids ist auch noch Generationen später in Familien spürbar, und es ist, als sei eine Tür aufgestoßen worden, durch die auch weitere Familienmitglieder gehen können – der Suizid gehört nun zum familiär erprobten Handlungsinventar, zur übernommenen Lösungsstrategie, zum legitimierten Ausweg aus einem unglücklichen Leben.
Lange Zeit dachte man, dass es eine Veranlagung zum Selbstmord gäbe. Heute wissen wir, dass es kein „Suizidgen“ gibt und das Suizidalität nicht vererblich ist. Allerdings leiden über 80 Prozent aller Suizidopfer unter psychischen Erkrankungen, die genetisch übertragen werden können, wie beispielsweise Depressionen. Neben einer genetischen Veranlagung bedarf es jedoch weiterer ungünstiger biografischer Faktoren, um an einer Depression zu erkranken und schließlich Suizidgedanken zu entwickeln.
Grundsätzlich häufen sich Suizide in Familien, in denen das Werkzeug fehlt, mit Krisen und Konflikten konstruktiv umzugehen. Stattdessen imitieren die Nachkommen mehr oder weniger unbewusst das suizidale Verhalten ihrer Vorfahren. Gunter Sachs erschoss sich wie sein Vater, beide waren an Depression erkrankt. Margaux Hemingway folgte dem Beispiel ihres Urgroßvaters, ihres Großvaters und seiner zwei Geschwister, als sie sich am Todestag ihres Großvaters Ernest Hemingway das Leben nahm. Wie Ernest litt sie unter Depressionen und war alkohol- und medikamentenabhängig.
Die Saat der Gewalt
Denn jedes Kind lernt durch Nachahmung. Sein Körper lernt nicht das, was wir ihm mit Worten beibringen wollten, sondern das, was dieser Körper erfahren hat. Daher lernt ein geschlagenes, verletztes Kind zu schlagen und zu verletzen, während das beschützte und respektierte Kind lernt, Schwächere zu respektieren und zu beschützen. Weil es nur diese Erfahrung kennt. [Alice Miller]
Familiäre Gewalt kann viele Gesichter haben. Sie kann in Form von verbalen Angriffen, von körperlicher Misshandlung oder sexuellem Missbrauch erfolgen. Allen Formen von Gewalt ist gemeinsam, dass sie tiefe Wunden in der Seele hinterlassen. Dass sie das weitere Leben des Kindes prägen, sowohl seine Sicht auf die Welt als auch seine Sicht auf sich selbst. Wenn ein Kind in einer gewalttätigen Atmosphäre aufwächst, gibt es keinen sicheren Ort mehr, keine sichere Bindung.
Die Beziehung zu den Eltern ist vergiftet, von Angst und Demütigung gezeichnet, und es ist nachvollziehbar, wie prägend sich dieser frühe Verlust von Sicherheit und Urvertrauen auf spätere Beziehungen auswirken wird. Aktuelle Studien belegen das hohe Risiko, dass sowohl Missbrauch als auch Misshandlung sich transgenerational fortsetzen. Viele Menschen wiederholen ihre gewalttätigen, traumatischen Kindheitserfahrungen mit ihren Kindern, denn sie wissen letztlich nicht, wie sich ein guter Vater, eine gute Mutter verhält: Sie haben diese guten Elternbilder nie erfahren und somit nicht verinnerlicht.
Manchmal schützt uns auch das Wissen um die familiäre Vergangenheit nicht davor, alte Gefühle in uns aufzunehmen, das Verhalten oder gar den Lebensweg eines Vorfahren zu wiederholen. Erst wenn dem Wissen ein Verstehen folgt, wenn die Gefühle zugeordnet werden können und das Unbewusste bewusst wird, können wir uns lösen und heraustreten aus einem Kreislauf der transgenerationalen Gefühlsübertragung. Wenn ein altes Trauma, wenn der Schmerz unserer Vorfahren gefühlt und anschließend zugeordnet werden kann, verringert sich die Macht der alten Gefühle.
Schuld und Scham
Unterdrückte und abgewehrte Gefühle spielen eine besondere Rolle in der deutschen Gesellschaft, die während des Nationalsozialismus große Schuld auf sich geladen hatte. Die Schuldgefühle, die gesellschaftlich verordnet, aber persönlich abgewehrt wurden, hinderten die Deutschen jahrzehntelang daran, sich mit ihrer Trauer zu beschäftigen. Stattdessen galten „Funktionieren“ und „Nach-vorne-Schauen“ als wichtigste Leitlinien. Die Kriegstraumatisierungen und die Verluste wurden wie alles andere totgeschwiegen und oft erst von den Folgegenerationen emotional erfasst.
Mittlerweile wissen wir viel über die transgenerationalen Auswirkungen der Zweiten-Weltkriegs-Traumata, auch beim deutschen Tätervolk. 1. Wir wissen, dass die Abwesenheit der Väter für die Soldatenkinder genauso prägend war wie deren Rückkehr als Fremde. 2. Wir wissen, dass Existenz- und Verlustängste von Flüchtlingen auf ihre Kinder übertragen wurden und dass abgewehrte Trauer Einfluss auf das emotionale Erleben der Folgegeneration hat. 3. Wir wissen, dass die nationalsozialistische Ideologie nach dem Zweiter Weltkrieg oftmals nicht neu bewertet oder verworfen wurde, sondern sich in den Köpfen und Herzen vieler Deutschen festgesetzt hatte, was einen anhaltenden Rassismus und Antisemitismus nach sich zog und nicht zuletzt auch Auswirkungen auf die Erziehung der Nachkriegsgeneration hatte.
Kann Schuld ebenso wie die Übertragung eines Traumas zu psychischen Problemen führen? Die Antwort ist nicht gerecht: Die Opfer des Holocaust und ihre Familien leiden stärker und nachhaltiger unter ihren Erfahrungen als die Täter und deren Nachkommen. Während sich die Erfahrung, Opfer geworden zu sein, auch über Generationen hinweg nicht abschütteln lässt und das Sicherheitsgefühl der Überlebendenfamilien bis heute beeinträchtigt, verfügen nationalsozialistische Täter und ihre Nachkommen oft über hochwirksame psychische Abwehrstrategien wie Verleugnung, Bagatellisierung und Verdrängung.
Alte Lasten ablegen
Aber es gibt auch Familien, in denen die Abwehr an irgendeiner Stelle brüchig wird, in denen mindestens ein Familienmitglied etwas übernimmt, mit dem die anderen nichts zu tun haben wollen, und etwas fühlt, was die anderen nicht fühlen wollen. Beliebt machen sich die Aufklärer bei ihren Familien selten. Im übrigen gilt ja hier derjenige, der auf den Schmutz hinweist, für viel gefährlicher als der, der dem Schmutz macht [Kurt Tucholsky an Herbert Ihering 1922].
1. Sie können stolz auf Ihre Familie sein oder sich für sie schämen. 2. Sie können sie lieben oder hassen. 3. Sie können gerne Zeit mit ihr verbringen oder jede Begegnung meiden. Egal, wie sehr Sie an Ihrer Familie hängen oder ihr zu entkommen versuchen – sie wird immer Teil Ihrer selbst sein. Sie werden immer Tochter oder Sohn Ihrer Eltern und Enkel Ihrer Großeltern sein und somit Mitglied einer einzigartigen Gesellschaft. Die ganz heile Familie, die gibt es nicht.
Jede Familie gibt neben wertvollen Mitgiften auch „Mist“ weiter. Neben überhöhten Ansprüchen, zu starken Loyalitätsforderungen, zu wenig Liebe, zu wenig Schutz, zu wenig Aufmerksamkeit werden oft auch negative Glaubenssätze von Generation zu Generation weitergetragen, und so gibt es Familien, die über Jahrhunderte hinweg dem Motto folgen: „Wer A sagt, muss auch B sagen“ oder „Über Gefühle spricht man nicht“.
Das Erbe annehmen
An der Vergangenheit können wir nichts mehr ändern, wohl aber an unsrer Gegenwart und unserer Zukunft. Als Erwachsene haben wir die Macht, unser eigenes und somit das Lebensgefühl unserer Kinder und Kindeskinder entscheidend zu beeinflussen. Wir können uns entscheiden, Stück für Stück aufzuräumen in unseren familiären Übertragungen, und uns anschließend bewusst auf positive Weitergaben konzentrieren. Untersuchen Sie Ihr Leben auf prägende Einflüsse aus Ihrer Familiengeschichte, und splitten Sie Ihr familiäres Erbe in annehmbare und zurückzuweisende Anteile auf.
Wenn Ihnen nur wenig Positives einfällt, dann gehen Sie sich selbst ab heute mit gutem Vorbild voran: Seien Sie sich selbst eine gute Mutter oder ein guter Vater und kümmern Sie sich um Ihre Bedürfnisse, Ihre Wünsche, Ihre Träume. Niemand ist mehr verantwortlich für Ihr Wohlergehen außer Sie selbst.
Erst nach dem Fühlen, Benennen und Anerkennen, was uns widerfahren ist und welche Last wir getragen haben, können alte Verletzungen zu heilen beginnen und den Weg zu Annäherung und Versöhnung mit unserer Familie und unserem Schicksal ebnen.
Die Auseinandersetzungen mit der familiären Vergangenheit und vor allem die Ablösung von den Eltern, den familiären Erwartungen und Loyalitäten sind keine zeitlich begrenzten Angelegenheiten. Sie beschäftigen uns unser ganzes Leben, mal mehr, mal weniger bewusst, in einigen Zeiten stärker und anderen Zeiten eher im Hintergrund. Wir bekommen für diesen Prozess keine Anleitung, kein Zwölf-Punkte-Programm in die Hand. Wir lernen durch jeden Schritt, aber wir laufen auch Kurven und Umwege, über Berge und durch Täler und manchmal zurück.
Niemand kann das emotionale Erbe seiner Familie einfach ausschlagen. Doch wir können dieses Erbe bewusst annehmen und sinnstiftend in unser Leben integrieren: Wenn wir es wagen, uns den dunklen Seiten unserer Familie zu stellen, alte Tabus und Geheimnisse zu beleuchten, nehmen wir ihnen ihre Macht und ihren Schrecken.
Herzlichen Dank, dass Sie mir bis hierher gefolgt sind!