Inhalt
Das Selbst als der Steuermann der Wellen und Strömungen
Das Selbst navigiert durch und mit Ebene und Linien
Die auf das Selbst bezogenen Ströme
Entwicklung ist etwas, das geschieht, indem das Leben uns immer wieder Fragen stellt
Die Wichtigkeit spiritueller Praxis
![Ebenen oder Stufen und multiple Intelligenzen zusammen bilden in den vier Quadranten die Grundlage der Integralen Psychologie.](https://www.votsmeier.com/wp-content/uploads/2024/05/Integrale-Psychologie.jpg)
Integrale Psychologie
Die Integrale Psychologie stellt eines der am intensivsten ausgearbeiteten Anwendungsgebiete des Integralen Ansatzes dar.
Der Integrale Ansatz ist nichts weiter als eine „Theorie von Allem“. Dies bedeutet. sie bringt ungelogen die gesamte Wissenschaftsliteratur der letzten Jahrhunderte zusammen und entwirft eine Vision davon, wohin Evolution uns führen könnte.
Das Fundament
Psychologie ist das Studium des menschlichen Bewusstseins und seiner Manifestationen im Verhalten. Zu den Funktionen des Bewusstseins gehören Wahrnehmung, Begehren, Wollen und Handeln. Zu den Strukturen des Bewusstseins, von denen einige Facetten unbewusst sein können, gehören Körper, Geist, Seele und GEIST. Die Entwicklung des Bewusstseins umfasst ein ganzes Spektrum, vom Vorpersönlichen über das Persönliche zum Transpersonalen, vom Unterbewussten über das Selbst-Bewusste zum Überbewussten, vom Es über das Ego (Ich) zum GEIST. Die Beziehungs- und Verhaltensaspekte des Bewusstseins beziehen sich auf seine Wechselwirkung mit der objektiven, äußeren Welt und der soziokulturellen Welt gemeinsamer Werte und Wahrnehmungen.
Das Unternehmen, jeden legitimen Aspekt menschlichen Bewusstseins zu achten und aufzunehmen, ist das Ziel einer integralen Psychologie.
Das Selbst als der Steuermann der Wellen und Strömungen
Wenn man in diesem Moment ein Gefühl seines Selbst bekommt – einfach darauf achtet, was es ist, was man „ich“ nennt – dann bemerkt man vielleicht wenigstens zwei Teile an diesem „Selbst“: Erstens ist da eine Art beobachtendes Selbst (ein inneres Subjekt oder Beobachter); und zweitens ist da eine Art beobachtetes Selbst (ein paar objektive Dinge, die man von sich selbst sehen oder wissen kann – ich bin ein Sohn, ein Arzt, ein Angestellter, ich wiege soundso viel usw.). Das erste Ich nennen wir das proximale Selbst und das zweite das distale (das entfernte) Selbst. Beide zusammen mit jeder anderen Quelle von Selbstheit – nennen wir das Gesamtselbst.
Diese Unterscheidungen sind wichtig, weil, wie viele Forscher – von Sri Ramana Maharashi bis Robert Keagan – bemerkt haben, während der psychologischen Entwicklung das „Ich“ der einen Stufe auf der nächsten Stufe ein „ich“ (im zweiten Sinne) wird.
Jane Loevinger hat zum Beispiel in hoch angesehener und weit rezipierter Forschung wichtige Belege dafür gefunden, das „Ich-Entwicklung“ fast ein dutzend Stufen deutlich erkennbaren Wachstums durchmacht. Was Loevinger „Ich-Entwicklung“ nennt, ähnelt sehr dem, was Wilber Entwicklung des proximalen Selbst nennt. Und die Entwicklung des proximalen Selbst ist aus seiner Sicht im Herzen der Evolution des Bewusstseins.
Die Grundstrukturen oder Grundwellen besitzen selbst keine Empfindung eines Selbst. Die Gundstrukturen sind einfach die Wellen des Seins und des Wissens, die dem Selbst zur Verfügung stehen, wenn es sich zu seinen höchsten Möglichkeiten hin entwickelt. Jedes Mal, wenn das Selbst (das proximale Selbst) auf eine neue Ebene im Großen Nest stößt, identifiziert es sich erst mit ihr und konsolidiert sie; dann löst es die Identifikation mit ihr (transzendiert sie, löst sich aus der Einbettung in sie); und dann umfasst es und integriert sie von der nächsthöheren Ebene aus. Mit anderen Worten, das Selbst geht durch den Drehpunkt (oder passiert einen Meilenstein) seiner eigenen Entwicklung.
Das Selbst navigiert durch und mit Ebene und Linien
Wenn man sagt, dass das Selbst sich mit einer bestimmten Welle im Großen Regenbogen identifiziert hat, heißt das jedoch nicht, dass das Selbst rigide auf dieser Ebene festhängt. Im Gegenteil, das Selbst kann gelegentlich „überall“ zugleicht sein. Innerhalb gewisser Grenzen kann das Selbst zeitweise das ganze Spektrum des Bewusstseins durchstreifen – es kann redigieren oder sich die Holarchie des Seins und Wissens hinunterbewegen; es kann sich in einer Spirale bewegen, sich wieder festigen und zurückkehren. Mehr noch, weil das Selbst auf jeder Stufe seiner Entwicklung immer auch Zugang zu den großen natürlichen Zuständen des Bewusstseins (dem psychischen, subtilen, kausalen und dem nichtdualen) hat, kann es gelegentlich Gipfelerfahrungen jedes dieser oder all dieser transpersonalen Bereiche haben, und deshalb für Augenblicke in größere Realitäten vorausspringen.
Wilber glaubt, dass jede der größeren Meilensteine der Selbst-Entwicklung von einem schwierigen Kampf um Leben und Tod gekennzeichnet ist, wozu der Tod jeder Ebene (das Lösen der Identifikation mit ihr, oder das Transzendieren) gehört, was oft ziemlich traumatisch sein kann.
Der einzige Grund, aus dem das Selbst schließlich den Tod seiner jeweiligen Ebene akzeptiert, ist, dass das Leben der nächsthöheren Ebene (oder löst seine Einbettung in sie), es „stirbt“ für eine ausschließliche Identität mit dieser Ebene und identifiziert sich mit dem Leben der nächsthöheren Ebene (oder umfasst sie und bettet sich in sie ein), bis auch ihr Tod angenommen wird.
Das proximale Selbst ist dann der Steuermann durch die Wellen (und Ströme) im großen Fluss des Lebens. Es ist die zentrale Quelle der Identität, und diese Identität dehnt sich aus und vertieft sich, während das Selbst von egozentrischen über soziozentrischen und weltzentrischen zu kosmozentrischen Wellen navigiert.
Die auf das Selbst bezogenen Ströme
Das Selbst hat die Fähigkeit, sich auf eine intime Art und Weise mit einer Bewusstseinswelle zu identifizieren, auf der Ebene kompetent zu werden und dann die Identifikation mit ihr wieder zu lösen, um zur nächsthöheren und weiteren Sphäre aufzusteigen und sich mit ihr zu identifizieren. Jedes Mal, wenn das Zentrum des Selbst um eine neue Ebene des Bewusstseins kreist, hat es natürlich eine neue Sicht vom Leben. Es ist mit anderen Ängsten konfrontiert, hat andere Ziele leidet an anderen Problemen. Es hat eine Reihe neuer Bedürfnisse, eine neue Klasse von Moral, ein neues Selbstgefühl.
Die Selbst-Stufen
Statt die ganzen Probleme des Lebens auf etwas zu reduzieren, das in den ersten Lebensjahren eines Menschen schiefgelaufen ist, gibt es sechs oder sieben andere Alter, die gleich wichtig, manchmal noch wichtiger sind. Jede folgende Stufe, Welle oder Ebene der Existenz ist ein Zustand, den Menschen auf ihrem Weg zu anderen Seinszuständen durchmachen. Es sollte nicht vergessen werden, dass praktisch alle diese Stufenkonzepte – von Abraham Maslow über Jane Loevinger und Robert Keagan bis zu Clare Graves – auf einem außerordentlichen Aufwand an Forschung und Daten beruhen.
Graves‘ Arbeit hat Don Beck fortgeführt, verfeinert und bedeutend erweitert. Spiral Dynamics, das er zusammen mit seinem Kollegen Christopher Cowan geschrieben hat, ist eine vorzügliche Anwendung der Entwicklungsprinzipien. Die Situation in Südafrika ist ein erstklassisches Beispiel dafür, warum die Vorstellung von Entwicklungsebenen (jede mit ihrer Weltsicht, ihren Werten und Bedürfnisse) tatsächlich soziale Spannungen reduzieren und sogar verringern kann, und sie nicht verschärft (wie Kritiker oft behaupten).
Der an Entwicklung orientierte Ansatz besteht darin, anzuerkennen, dass es viele verschiedene Werte und Weltsichten gibt; dass mache komplexer als andere sind; dass viele der Probleme auf einer Stufe der Entwicklung nur gelöst werden können, wenn man sich zu einer höheren Ebene entwickelt; und dass nur durch Anerkennung und Förderung dieser Evolution sozialer Gerechtigkeit letztlich gedient werden kann. Wie Beck es ausdrückt: „Der Fokus liegt nicht auf Arten von Menschen, sondern auf Arten in Menschen.“
Entwicklung ist etwas, das geschieht, indem das Leben uns immer wieder Fragen stellt
In der Darstellung des Integralen Ansatzes ist das Selbst ein zusammengesetztes” System”, das seinen Schwerpunkt auf einer Sprosse der Entwicklungsleiter hat, jedoch auch Teile oberhalb und unterhalb der Sprosse auf anderen Ebenen haben kann. Die Ebenendimension erweitert sich durch den Aspekt einer Vielzahl paralleler Entwicklungskontexte, verschiedener Lebenslinien, Bildungsbereiche bzw. “multipler Intelligenzen”, die weitgehend unabhängig voneinander über die Ebenen verlaufen. Da jede Entwicklungslinie eine Ausprägung des Selbst darstellt, lässt sich das Selbst nun als ein System verstehen, das sich aus der Gesamtheit aller Linien und der in ihr enthaltenen Ebenen zusammensetzt. Insgesamt lassen sich nach Wilber mindestens ein Dutzend Entwicklungslinien unterscheiden.
Ihre Fragen an uns lauten:
Was erkenne ich? (Kognitive Fähigkeiten)
Was brauche ich? (Bedürfnisse)
Wer bin ich? (Ich-Identität)
Was ist für mich wichtig? (Werte)
Wie empfinde ich das? (Emotionale Intelligenz)
Was finde ich schön oder anziehend? (Ästhetik)
Wie handele ich richtig? (Moralische Entwicklung)
Wie sollen wir uns miteinander austauschen? (Zwischenmenschliche Beziehung)
Wie soll ich das körperlich bewerkstelligen? (Kinästhetische Fähigkeiten)
Was ist mein höchstes Anliegen? (Spiritualität)
Diese Linien können sich unabhängig voneinander entwickeln. Wenn wir jegliche psychischen Auffälligkeiten als Störungen der Entwicklung begreifen, ist es letztlich nur noch eine Frage des Entstehungszeitpunktes, wie sie sich ausprägen werden. Ob sie dann als Persönlichkeitsmerkmal, Macke oder als Erkrankung rüberkommen, wird davon bestimmt, wie stark die jeweilige Ausprägung ist.
Die Entwicklungsebenen sind ebenso universell wie die Linien. Jeder Mensch auf dieser Welt durchläuft sie. Zumindest bis zu einem gewissen Punkt. Die Stufen bauen aufeinander auf. Sie sind jedoch nie voneinander getrennt. Sie sind in unendlich verschiedenen Abstufungen miteinander verschachtelt und verwoben, gehen ineinander über. Man bleibt als einigermaßen gesunder Mensch auch nie ganz auf einer Stufe stehen.
Drehpunkte der Entwicklung
Es sind diese Ebenen, die bestimmen, ob wir es mit den Herausforderungen einer Psychose, einer Persönlichkeitsstörung wie Narzissmus, Borderline, Neurosen, Lerndefiziten oder was auch immer zu tun haben werden. Niemand erklärt das besser als Ken Wilber.
Drehpunkt 0: vorgeburtliche- und Geburtserfahrungen, undifferenziert
Bei jedem der Drehpunkte, der zu einer nächsten Entwicklungsstufe führt, geht es darum, sich mit der Ebene, auf der man sich gerade befindet, völlig zu identifizieren, mit ihr zu verschmelzen, sie sich zu eigen zu machen. Das ist der notwendige erste Schritt von Dreien. Man ist nun so lang mit einer Stufe identifiziert und verschmolzen, bis es zum nächsten Entwicklungssprung kommt.
Am einfachsten ist das darzustellen mit der ersten großen Verschmelzung, der vorgeburtlichen im Mutterleib. Das ist D-0. Um weiterzukommen, muss es zweitens dann eine Differenzierung geben. Das wäre dann die Geburt an sich.
Der Geburtsprozess direkt gehört zu D-0. Das Baby erlebt intensiven Schmerz und ekstatische Freude. Bei mangelnder Differenzierung davon kann das später sadomasochistisches Verhalten auslösen, um diese Erfahrungen erneut nachzuleben.
Der dritte Schritt ist die Integration. Diese beinhaltet, dass es zu einer Transzendenz mit gleichzeitigem Umfassen der vorherigen Ebene kommt. Die Ergebnisse aus den vorangegangenen Lernprozessen sind vollständig in der neuen Ebene aufgegangen und bilden etwas Neues, das weit über die bloße Verbindung beider Ebenen hinausgeht.
Identifikation, Differenzierung und Integration finden in jeder Phase erneut statt
Der Prozess von Differenzierung und Integration kann jedes Mal irgendwie schiefgehen. Das führt dann zu einer Blockade, einer Einengung des Selbst auf seinem Weg der Entfaltung. Oder im schlimmsten Fall zu einer ausgemachten Pathologie.
Bei jedem der Drehpunkte können sich andere innere Stimmen der Persönlichkeit ausbilden. Je nachdem, auf welcher Stufe es zu Schwierigkeiten kommt, bleibt ein Teil unerlöst zurück. Und wie bereits gesagt: Jede dieser Subpersönlichkeiten kann sich in jeder der Linien auf einer anderen Ebene der Entwicklung befinden.
Und jeder von uns ist vollends in der Lage, die ausgelassenen Entwicklungsschritte jederzeit nachzuholen.
Drehpunkt 1: physisches sensorisches Selbst, archaisches Weltbild (Beige)
Das Selbst ist zu Beginn relativ undifferenziert von seiner Umgebung. Laut Piaget ist es sozusagen materiell. Das heißt, es kann nicht leicht sagen, wo sein Körper aufhört und wo die Umgebung anfängt. Das ist der Anfang von D-1. Es geht darum, die eigenen körperlichen Grenzen zu spüren und auszubilden.
Diese Phase beginnt mit der Geburt und endet mit ca. 12 Monaten. Wenn das Kind die physische Objektpermanenz mit etwa 18 Monaten realisiert hat, markiert dies den Beginn von D-2. Die Weltsicht ist archaisch. Wir haben nur Sinneseindrücke, Wahrnehmungen, früheste Impulse und Bilder zur Verfügung. Wenn dieses archaische Bewusstsein nicht differenziert (transzendiert) und integriert (gelöst) wird, kann es zu primitiven Pathologien führen. So kann sich das archaische Selbst nur auf sehr einfache Weise verteidigen. Wenn sich das Selbst nicht richtig von der physischen Umgebung differenziert und seine Bilder davon integriert, kann das schwerwiegende Auswirkungen haben, wie bestimmte Formen von Psychose.
Drehpunkt 2: phantastisch-emotionales Selbst, magisches Weltbild (Purpur)
Irgendwann im ersten Lebensjahr hat das Baby also gelernt, dass es einen Unterschied macht, ob es in die Decke beißt oder in seinen eigenen Daumen. Dass es einen Unterschied gibt zwischen Körper und Materie. Das Kleinkind unterscheidet nun seinen Körper von der Umgebung und so verschiebt sich mit dem Beginn von D-2 seine Identität von der Verschmelzung mit der materiellen Welt zu einer Identität mit dem emotional fühlenden Körper. Es gilt daher, die eigenen Gefühlsgrenzen zu spüren und auszubilden.
Das emotionale Körper-Selbst differenziert sich von den Emotionen und Gefühlen anderer und von emotionalen Objekten. Die Phase dauert von 1-3 Jahren. Es ist die Stufe der Ablösung und Individuation. Ihre Weltsicht ist magisch. Die Welt kann in allmächtiger Phantasie herumkommandiert werden. Das Selbst hat die Mittel intensiverer Gefühle, Emotionen und neu entstehender Symbole hinzugewonnen und es kann sich deshalb auf raffinierte Weise verteidigen. Es spaltet sich und die Welt in „vollkommen gut“ und „vollkommen schlecht“, es projiziert seine Gefühle und Emotionen auf andere und verschmilzt mit der emotionalen Welt anderer.
Wenn das emotionale Körper-Selbst bei D-2 Mühe hat, sich selbst von anderen zu differenzieren, kommt es zu Störungen der Persönlichkeit. Zum Beispiel könnte das Ergebnis bleibender Narzissmus sein. Narzisst zu sein bedeutet, dass andere als Erweiterung des Selbst behandelt werden. Es kann auch zu einer Borderline-Störung kommen. Schmerzhaft und störend dringt hier die äußere Welt in das noch fragile Selbst ein. Andere überschreiten und durchbrechen ständig die Grenzen des ungeschützten Selbst.
Bis einschließlich D-2 ist die Entwicklung zum größten Teil präverbal und vorbegrifflich.
Drehpunkt 3: begriffliches Selbst, magisch-mystisches Weltbild (Rot)
Um das 3.- 6. Lebensjahr herum unterscheidet das Kind schließlich den konzeptuellen Geist und den emotionalen Körper. Das frühe mentale Selbst beginnt aufzutauchen und sich vom Körper und seinen Impulsen, Gefühlen und Emotionen zu differenzieren, und versucht, diese Gefühle in sein konzeptuelles Selbst zu integrieren. D-3 endet, mit 5-7 Jahren, wenn die eigenen Grenzen erspürt werden können und ausgebildet sind.
Das Kind lernt zu unterscheiden, was von den Eltern gewünschtes und unerwünschtes Verhalten ist. Das Selbst verfügt nun über verfeinerte Konzepte und den Beginn von Regeln. Diese neuen Mittel können als sehr mächtige Abwehrmechanismen benutzt werden, um den Körper und seine Gefühle wirksam zu unterdrücken, seine Begierden zu verschieben und verdrängen, Reaktionsbildungen zu erzeugen.
Bei D-3 hinterlässt ein Mangel an Differenzierung eine Verschmelzung mit dem labilen emotionalen Selbst. Wenn Körper und Geist sich zwar differenzieren, dann aber nicht integriert werden, so dass die Differenzierung zu Dissoziation wird, ist das Ergebnis eine klassische Neurose.
Bei Verdrängung der körperlichen Gefühle, insbesondere der aggressiven und sexuellen Gefühle, kann der Geist von schmerzhaft starken Emotionen überschwemmt und überwältigt werden. Stimmungsschwankungen und Schwierigkeiten mit der Impulskontrolle sind üblich.
Drehpunkt 4: Regel/Rollen-Selbst, ethnozentrisches Ego, mythisches Weltbild (Blau)
Im Alter zwischen 6 und 12 beginnt das Selbst, die Regeln seiner Gesellschaft zu lernen. Vorgelebte Rollen anderer werden übernommen. Wir bewegen uns vom Ich zum Wir, vom rein Egozentrischen hin zur Gemeinschaft. Diese Gemeinschaft ist jedoch klar abgegrenzt. Wir gegen die anderen. Das Thema lautet Zugehörigkeit.
Wenn hier etwas schiefgeht – und da inzwischen so viele Teile verloren gegangen sind – bekommen wir eine „Skript-Pathologie“. Hier haben unsere hinderlichen inneren Glaubenssätze ihren Ursprung. Was wir über uns zu wissen glauben, was andere uns eingeredet haben. All die falschen, irreführenden Geschichten und Mythen über sich und die Welt, die das Selbst lernt.
Weitere Probleme entstehen, wenn wir das Gefühl haben, nicht dazuzugehören. Die Abwehrmechanismen, die uns auf D-4 zur Verfügung stehen, sind Verschiebung, mehrdeutiges Verhalten und verdeckte Absichten.
Die gute Nachricht ist, dass es ab hier wohl kaum mehr zu einem Entwicklungstrauma kommen kann, denn die Psyche ist inzwischen stabiler geworden. Laut Weinreich sind eher Lerndefizite zu erwarten.
Drehpunkt 5: Rationales Selbst, weltzentrisches/reifes Ego (Orange)
Das Selbst kann sich von einem Selbst mythischer Zugehörigkeit mit konventioneller Moral, Regeln und Rollen zu einem globalen, weltzentrischen Selbst hinbewegen, dem reifen, gewissenhaften, individualistischen Ich. Nicht länger Wir, mein Stamm, meine Gruppe, meine Nation, sondern Wir, alle Menschen ohne Ausnahme, unabhängig von Rasse, Religion, Geschlecht oder Glauben. Mitgefühl ist universell, unparteilich, fair, gerecht für alle.
Viele erreichen diese Stufe von 12-19 Jahren. Das selbstreflektive Ich taucht auf und stellt die gesellschaftlich vorgegebenen Normen in Frage.
Die Probleme drehen sich oft um diesen schwierigen Übergang. Wer bin ich? – und zwar nicht nach meinen Eltern oder nach der Gesellschaft oder meinen Glaubensvertretern, sondern nach meinem eigenen tief inneren Gewissen? Das Selbst macht sich auf, herauszufinden, was das eigene, individuelle Leben ausmachen könnte. Es ist dann mit einer Verwechslung von Identität und Rolle konfrontiert.
Drehpunkt 6 – existentielles, integriertes Selbst, Integration von Körper und Geist (Grün – Türkis)
Die Entwicklungsstufe des 6. Drehpunktes bringt existenzielle Pathologien mit sich über die eigene Endlichkeit, die Sinnlosigkeit des Lebens und des Todes etc. Das beobachtende Selbst blickt auf die Welt und auf sich selbst. Es ist die Metaebene, das Zeugenbewusstsein, das hier erstmals auftritt. Unter den damit einhergehenden Abwehrmechanismen innerhalb dieser existentiellen Lebenskrise fallen u.a. aufgegebene Selbstverwirklichung und existenzielle Resignation.
Das transpersonale Bewusstsein des “Dritten Ranges”
Die Entwicklung in immer höhere Bewusstseinsbereiche bringt, auf Grund der hier erreichten Komplexität der Gesamtspirale, eine schier unbegrenzte Zahl an Pathologien mit sich. Hierbei kann es um die Integration unbewältigter Aspekte früherer Bewusstseinsebenen gehen oder die Verarbeitung von plötzlichen Sprüngen auf transpersonale Ebenen (Gipfelerfahrungen). Die früheste und einfachste Pathologie bringt die Verleugnung der Existenz der eigenen Seele mit sich. Methodologisch gesehen, verortet sich hier der traditionelle Interventionsbereich der transpersonalen Psychologie und der spirituell-kontemplativen Praxis.
Die Wichtigkeit spiritueller Praxis
Ein qualifizierter Lehrer, mit dem man sich wohl fühlt, ist unbedingt nötig.
Die meisten Ansätze dieser neuen Paradigmen empfehlen, dass wir Schau-Logik (oder holistisches Denken) benutzen, um unsere fragmentierte Welt zu überwinden. Aber kognitive Entwicklung (wie Schau-Logik oder Netzwerkdenken) ist für moralische Entwicklung, Selbst-Entwicklung, spirituelle Entwicklung uns so weiter notwendig, aber nicht hinreichend. Man kann vollen Zugang zur Schau-Logik haben und doch auf der moralischen Stufe 1 sein, mit Sicherheitsbedürfnissen, egozentrischen Trieben und narzisstischen Neigungen. Man kann Systemtheorie vollkommen beherrschen und neue Physik vollständig lernen doch in emotionellen, moralischen und spirituellen Strömen sehr wenig entwickelt sein.
Spirituelle Enthüllungen
Die Bewusstseinsevolution folgt immer dem Prinzip „Transzendieren und Umfassen“, und nachdem es die Welt der Form vollständig transzendiert hat, erwacht das Bewusstsein zu einer radikalen Umarmung aller Formen: „Das, was Form ist, ist nichts anderes als Leere, das, was Leere ist, ist nichts anderes als Form“ – die ewige, heilige Gleichung.
Die Welt ist Schein,
Brahman allein ist wirklich,
Brahman ist die Welt.
(Im Zeitalter der Upanishaden (750–500 v. Chr.) werden die Weltenseele Brahman und das Selbst, Atman, als Wesenseinheit begriffen, die das wahre Wesen der Welt repräsentiert. Dieses Eine werde im Kosmos als Brahman, im Einzelnen als Atman erkennbar.)
Brahman und das Tao sind beides mystische ontologische Konzepte, die versuchen zu vermitteln, was nicht in Worte gefasst oder vom rationalen Verstand nicht einmal vollständig verstanden werden kann. Sie können, und ich glaube gerne, dass sie das tun, dasselbe Thema symbolisieren, was auch immer wir erleben, wenn wir dieses Gefühl haben, diesen numinosen Sinn, dass wir die Struktur der Existenz selbst angezapft haben.
Brahman ist in der upanishadischen und vedantischen Philosophie das allumfassende Ganze. Es ist Sein und Bewusstsein. Es ist alles Materie und Energie. Brahman ist alles und alles ist Brahman. Viele seiner Beschreibungen lassen es wie etwas Statisches klingen, aber Brahman ist auch Prozess. Es ist der lebendige Atem des Universums.
Das Tao, das alte chinesische philosophische Konzept, auf dem der Taoismus basiert, wird in viel flüssigeren Begriffen beschrieben. Es ist das Prinzip, nach dem sich die ganze Natur entfaltet. Das Tao ist das Gleichgewicht der Gegensätze. Es ist die tiefe, unveränderliche Art der Welt, die Harmonie in unserem Leben erzeugt, wenn wir uns wieder mit ihr verbinden und in Übereinstimmung mit ihr leben können.
Die wachsende Spitze der Evolution
Diese Worte, das Tao und Brahman, sollen das allumfassende Prinzip, den Prozess und den Geist von sowohl dem, was ist, als auch dem, was immer wird, ausdrücken. Keiner versucht, etwas von uns Getrenntes zu postulieren. Wir sind immer Teil des Ganzen, das Sein ist. Wir erinnern uns nur nicht daran.
Die Weisen beider Traditionen empfehlen ähnliche Praktiken, um uns dabei zu helfen, uns auf diese ultimative Essenz einzustimmen: Beobachtung und Bewusstsein von sich selbst, anderen und der Natur, vorbildliche Ethik, Mitgefühl, Stille, Meditation – alles Methoden, um den Griff der Ego-Persönlichkeit zu lockern und unsere empfundene Getrenntheit zu überwinden.
Und schließlich sagen sie, dass wir mit genügend Hingabe und Übung lebende Repräsentationen des Tao, von Brahman werden können. Wir können uns entspannen, ohne Angst zu haben, denn es gibt nichts Getrenntes vom Sein und daher nichts zu befürchten. Wir müssen nicht handeln, denn es ist der Prozess, der handelt, nicht wir. Weisheit entsteht spontan.
Tiefenökologen gehen oft von der Annahme aus, dass in Kulturen von Jägern und Sammlern alle ein schamanisches Bewusstsein besaßen, während in Wirklichkeit ein Schamane ein ziemlich seltener Vogel gewesen ist – ein Schamane pro Stamm, in der Regel, und nur ein Schamane von zehn ein wahrer Meister (wenn überhaupt). Die entwickelten Gestalten waren diese spirituellen Pioniere ihrer Zeit und sie sind auch unserer Zeit noch voraus. Sie sind deshalb Stimmen unserer Zukunft, nicht unserer Vergangenheit.
Die integrale Umarmung
1. Evolution ist fortwährende Bewegung holarchischer Umarmung, dem immer tieferen Entfalten, aus dem die Evolution des Bewusstseins besteht, von präpersonal zu personal zu transpersonal, unterbewusst zu selbst-bewusst zu überbewusst.
2. Evolution isoliert uns nicht vom Rest des Kosmos, sie vereinigt uns mit dem Rest des Kosmos.
3. Evolution in jedem Quadranten ist GEIST-in-Aktion. Die evolutionäre Strömung des Kosmos – dieser große Strom des Eros, ist in der Tat Liebe, die die Sonne und andere Sterne bewegt.
4. Evolution in allen Formen hat begonnen, ihrer selbst bewusst zu werden. Evolution, als GEIST-in-Aktion, beginnt auf einer kollektiven Ebene zu erwachen. Dieser Eros bewegt sich durch Dich und mich und fordert uns auf, einzuschließen, zu diversifizieren, zu achten und zu umfassen.