Inhalt
Trauer lässt sich nicht in ein Phasenmodell pressen
Den Toten einen Platz in unserem Leben geben
Trauer bezeugen und die Trauernden begleiten
Frühe, akute Trauer überwinden
Was bedeutet es, Trauer zu integrieren?
Verlust und Kummer bedeuten Wandel, Entwicklung und Wachstum

Trauer und Verlust
Trauer ist die passende Reaktion auf Verlust.
Die einzige Aufgabe, die jemand dann hat, ist: Trauern.
Je größer der Verlust, desto größer wird auch die Trauer sein.
»Der Schmerz in der Trauer ist eine natürliche Antwort darauf, dass man jemanden oder etwas verloren hat, das man liebt. Das ist unangenehm. Das ist schmerzhaft, aber man macht nichts falsch. Was wir tun müssen ist, das Trauern wahrzunehmen und es zu unterstützen.« [Megan Devine]
Übergänge im Leben
Jeder von uns ist mit Verlust und Veränderungen konfrontiert: Verlust eines geliebten Menschen, der eigenen Identität, Veränderungen im Beruf, in der Familie, in der Gesundheit und in der Gemeinschaft. Trauer ist mehr als nur Traurigkeit, sie ist oft eine Kombination von Gefühlen wie Schock, Verwirrung, Angst, Wut und Bedauern. Vielleicht haben Sie sogar das Gefühl, dass Sie »verrückt« sind.
Was aus Verlust und Veränderung im Lebenszyklus Krisen macht – also problematische und schmerhafte Übergänge -, ist die Tatsache, dass wir beim Durchlaufen dieser Perioden Vertrautes und Liebgewonnenes aufgeben müssen. Viele Menschen sind nicht willens oder fähig, den Schmerz der Trauer auf sich zu nehmen, Überlebtes aufzugeben. Folglich klammern sie sich, oft für immer, an alte Denk- und Verhaltensmuster und schaffen es daher nicht, mit der Krise fertigzuwerden und den Übergang zu größerer Reife zu vollziehen. Hier nun eine kleine Auswahl von Vorstellungen, die wir im Verlauf unseres Lebens aufgeben werden müssen:
Die Phantasie des Kleinkindes, allmächtig zu sein.
Das Offenstehen aller Möglichkeiten und die Agilität in der Jugend.
Die sexuelle Attraktivität und/oder Potenz der Jugend.
Die Phantasie der Unsterblichkeit.
Verschiedene Formen zeitweiliger Macht.
Um am Ende das Selbst und das Leben.
Es gibt kein bestimmtes »Rezept« für die Heilung. Ihre Erfahrung von Trauer ist einzigartig. Trauer hat auch kein Ablaufdatum und seine ganz eigene Zeit. Trauern ist individuell und lässt sich nicht in Phasenmodelle einsortieren.
Trauer lässt sich nicht in ein Phasenmodell pressen
Wenn zum Beispiel ein geliebter Mensch stirbt, ist von einem Moment auf den anderen alles anders. Das eigene Leben bleibt plötzlich stehen, ist aus den Fugen gehoben. Und wenige wissen wirklich, wie sie mit der Trauer umgehen sollen.
Viele Jahre lang waren Phasenmodelle die Standardantwort auf diese Frage. Das bekannteste Modell kommt von der Schweizer Psychotherapeutin Elisabeth Kübler-Ross. Demnach durchlaufe ein trauernder Mensch fünf Phasen, wenn auch nicht in genau dieser Reihenfolge: Nicht-Wahrhaben-Wollen, Zorn, Verhandeln, Depression und schließlich Akzeptanz.
Phasenmodelle versprechen einen Anfang und vor allem ein klares Ende von Trauer. Doch viele Experten sagen heute: Sie stimmen nicht und sind auch nicht hilfreich in der Bewältigung eines Trauerfalls.
Die Psychotherapeutin Megan Devine sagt: »Der Krater, der sich in einem Leben auftut, wird nie verschwinden. Er wird auch nicht kleiner werden. Aber es wird sich ein anderes Leben rund um den Krater ansiedeln, wenn getrauert werden darf.« Doch eines sei klar: Der Verlust eines geliebten Menschen bleibe bestehen.
Den Toten einen Platz in unserem Leben geben
Robert Neimeyer ist Professor für Klinische Psychotherapie an der Universität von Memphis und beschreibt den Zugang zum Trauern mit dem Fachbegriff »continuing bonds«, fortgeführte Beziehungen. Demnach gehört es zum Trauern nicht dazu, den verlorenen gegangenen Menschen »loszulassen« und mit dem Verlust abzuschließen, wie Phasenmodelle das vorschlagen. Sondern trauernde Menschen finden weiterhin einen Platz für die Toten in ihrem Leben und ihren Gemeinschaften.
Trauer bezeugen und die Trauernden begleiten
»Für die Trauernden ist es wichtig, dass ihre Geschichte gehört wird. Dass sie unterstützt werden und nicht beurteilt. Dass sie nicht Klischees anhören müssen, wie sie zu fühlen haben. Die unterstützende Person muss wirklich im Moment sein, zuhören lernen, lernen, was der Freund oder das Familienmitglied braucht und ihm nichts aufdrängen. Das Ziel ist nicht, dass es den Trauernden bessergeht. Es geht darum, bei ihnen genau da zu sein, dort wo sie gerade sind.« [Patrick O’Malley]
Viele Menschen haben Angst vor Trauer. Sie kann überwältigend sein und wir haben nicht gelernt, mit ihr umzugehen. Und es gibt ein Phänomen, dass viele Trauernde erleben: dass der Schmerz zu verschiedenen Momenten im Leben wieder hochkommt. Manchmal Jahre nach einem Tod, und überraschend heftig.
Trauernde haben in ihrer Situation oft nicht die Kraft, auf andere zuzugehen. Sie brauchen aber die Wärme, Zuneigung und Hilfe anderer dringend. Lassen Sie Trauernde daher nicht alleine.
Die Kraft der Trauer
Trauer hilft uns, uns dem Fluss des Lebens hinzugeben. Trauerkraft öffnet unsere Herzen für die Kraft der Liebe, damit wir das annehmen können, was uns nichtgefällt und was wir dennoch nicht ändern können – wie den Tod, wie die Trennung von einem geliebten Menschen oder auch wie das ganz alltägliche Wetter. Trauer ist eine Kraft von großer Tiefe, Weite und Weisheit. In ihr können wir schwimmen, uns treiben lassen, wenn wir es uns gestatten. Durch sie können wir auch das annehmen, was unseren Vorstellungen nicht entspricht. Wenn wir uns auf Trauer als Kraft einlassen, wird unser Herz weit.
Trauer ist die Kraft der Liebe und des Friedens. Ihr Wasser befähigt uns, Widerstand loszulassen, uns dem Strom des Lebens hinzugeben und Frieden zu schließen mit dem, was ist. Durch Trauerkraft entsteht auch ein tiefer Kontakt mit uns selbst und anderen. Wir zeigen uns mit unseren Wünschen und Sehnsüchten, jedoch ohne kämpferisch für diese einzutreten. Menschen, die eine gesunde Trauer haben, werden von ihrem Mitmenschen wegen ihrer Herzenswärme, Weisheit, Tiefe und Liebesfähigkeit geschätzt.
Fehlt uns die Bereitschaft zu trauern, so fehlt uns die entscheidende Möglichkeit, Tiefe, Weisheit und wahrhaftige Liebe zu entwickeln. Unsere Beziehungen zu unseren Mitmenschen und unserer Umwelt hat dann eine oberflächliche, fast willkürliche Qualität.
Nicht minder problematisch ist bei der Trauer auch das andere Extrem. Erzeuge ich durch die Interpretation »das ist schade« übermäßig viel Trauerkraft, lande ich in einer Sackgasse. Der Melancholiker trifft unentwegt die Interpretation, dass etwas schade ist – meist nicht nur – dass etwas schade ist, sondern dass die ganze Welt schade ist. Das ist schade, denn dadurch entgeht ihm die Möglichkeit, kreativ zu sein, aktiv zu sein, freudvoll zu sein, lebendig zu sein, vital zu sein.
Frühe, akute Trauer überwinden
Wenn jemand stirbt oder Sie einen anderen schweren Verlust erleiden, fühlt sich Ihr Leben oft so an, als ob es in zwei Teile geteilt wäre – in ein Vorher und ein Nachher. In den ersten Tagen und Wochen nach einem Verlust ist die Trauer völlig übermächtig. Sie blicken fast zwanghaft auf die Welt zurück, die vorher existierte, auf das Leben, das eigentlich so sein sollte. Sie sind von völligem Unglauben, Zweifeln und Ängsten erfüllt, ob Sie jemals in der Lage sein werden, in dieser zerrütteten Welt »nach dem Verlust« zu leben. Der Schmerz ist unerbittlich und die Zukunft sieht oft wie ein leerer Abgrund aus.
Die Gefühle der Trauer können erschreckend sein. Man macht sich oft Sorgen, dass man von der ständigen Flut der Trauergefühle erdrückt wird. Um mit der Intensität dieser Gefühle fertig zu werden, wehren sich die Menschen gegen die Trauer. Es kann sein, dass man alles vermeidet, was den Schmerz hervorruft.
So unvorstellbar es auch ist, irgendwie überleben wir akuten Kummer
So schwer es auch zu glauben ist, irgendwie überleben wir die ersten Tage nach einem Verlust – einen Tag nach dem anderen. Manchmal sogar einen Atemzug nach dem anderen.
Während wir langsam unsere Routinen wiederaufnehmen, beginnen wir herauszufinden, wie wir ein Leben führen können, das sich ohne den geliebten Menschen sinnvoll und ausgeglichen anfühlt. Für viele Menschen werden dabei zwei Dinge deutlich: Sie wollen schließlich wieder in der Welt gedeihen, und sie wollen auch die Erinnerung an den geliebten Menschen mitnehmen. Die Art und Weise der Bewältigung der frühen Trauer dient oft nicht diesen Zielen. Sich krampfhaft an jede Erinnerung zu klammern und sich in der Vergangenheit und im Schmerz zu verlieren, lässt keine sinnvolle Gegenwart zu. Aber der verzweifelte Versuch, emotionale Erinnerungen zu vermeiden, schwierige Gefühle zu betäuben und die Vergangenheit zu ignorieren, lässt keine Verbindung zur Erinnerung an den geliebten Menschen in der Gegenwart zu. Sie schaffen eine abgeschottete Welt, in der wir entweder von der Trauer verzehrt werden oder unsere Trauer und die Erinnerung an den geliebten Menschen verleugnen.
Und schließlich: Was bedeutet es, Trauer zu integrieren?
Irgendwann in der Phase der Trauer erkennen die meisten Menschen, dass die Trauer sie verändert hat. Wir kehren nicht zur »Normalität« zurück. Um mit der Erinnerung an den geliebten Menschen verbunden zu bleiben, mit den komplizierten Emotionen der Trauer fertig zu werden und auf eine Weise zu leben, die Sinn und Zweck hat, müssen wir die Trauer einladen zu bleiben, sich mit der Trauer anzufreunden.
Integrierte Trauer ist eine Trauer, die in Ihrem Leben existiert, als ständiger Teil Ihres Lebens, ohne Ihr Leben zu überwältigen oder zu dominieren. Die Trauer wirkt sich auf Ihre Identität aus und verändert Ihre Rollen, Beziehungen und Prioritäten. Trauer zu integrieren bedeutet, die Person loszulassen, die Sie vor dem Verlust waren, und die Person anzunehmen, die Sie jetzt sind, eine Person, die durch die Trauer verändert wurde.
Verlust und Kummer bedeuten Wandel, Entwicklung und Wachstum
Die Integration von Trauer geschieht nicht über Nacht oder mit dem Umlegen eines Schalters. Es ist eine langsame Entwicklung. Seien Sie geduldig mit sich selbst und holen Sie sich Unterstützung, wenn Sie sie brauchen.
Die Kraft des Weinens
Traurigkeit, Angst, Freude, Schmerz, Überforderung, Einsamkeit, Wut – Weinen ist emotional. Vielen Menschen ist es unangenehm, wenn Tränen fließen. Sie versuchen, das Weinen zu unterdrücken. Dabei hat es eine reinigende Wirkung.
Besonders nach einem Todesfall oder einer Trennung haben viele Menschen Tränen in den Augen. Sie fühlen sich überwältigt von ihrem Schmerz. Weinen hilft, aktiv zu trauern und sich von geliebten Menschen zu verabschieden. »Jede Träne, die wir nicht rauslassen, stellt sich hinten wieder an. Wenn ich meinen Emotionen Raum gebe, kann ich verarbeiten, was ich erlebt habe. Sonst trage ich es die ganze Zeit unverdaut in mir«, sagt die Psychologin Leoni Saechtling. »Weinen ist eine wertvolle Möglichkeit, sein Inneres zu reinigen, auch wenn es anstrengend ist. Wir haben noch eine weiten Weg vor uns, um das Weinen wirklich als konstruktive, gesellschaftlich etablierte Bewältigungsstrategie zu akzeptieren.«
Tränen signalisieren dem sozialen Umfeld, dass man Unterstützung oder Beistand braucht. Das kann helfen, Gedanken und Gefühle in den Griff zu bekommen. »Tränen entstehen auch dann, wenn wir etwas Trauriges oder Berührendes erleben oder uns innerlich damit verbinden. Es kann sogar sein, dass ich weinen muss, obwohl eigentlich nur in einem Film, den ich gerade schaue, eine dramatische Szene dargestellt wird«, sagt die Psychologin. Selbst Freude kann ein Grund zum Weinen sein. Wer von seinen Gefühlen überwältigt wird, zeigt das durch Freudentränen. Auch Tränen aus Wut haben eine Funktion: »Manchen Menschen erlauben sich nicht, wütend zu sein, weil es in ihrer Kindheit aberzogen wurde, und fallen dann in aktuellen Situationen, in denen Wut und erwachsene Abgrenzung angemessen wären, eher in eine Trauer- und Hilflosigkeitsreaktion – also auch ins Weinen«, erklärt Saechling. »Da ist dann wichtig zu lernen, wann betrauern und wann eine aktive Positionierung notwendig ist, um ein erfülltes und selbstbestimmtes Leben zu führen.«
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